1879, Briefe 790–922
880. An Heinrich Köselitz in Venedig
<St. Moritz, 11. September 1879>
Lieber lieber Freund, wenn Sie diese Zeilen lesen, ist mein Manuscript in Ihren Händen; es mag seine Bitte an Sie selber vortragen, ich habe nicht den Muth dazu. — Aber ein paar Augenblicke des Glücks sollen Sie auch mit mir theilen, die ich jetzt beim Gedanken an mein nunmehr vollendetes Werk habe. Ich bin am Ende des 35sten Lebensjahres; die „Mitte des Lebens“, sagte man anderthalb Jahrtausende lang von dieser Zeit; Dante hatte da seine Vision und spricht in den ersten Worten seines Gedichts davon. Nun bin ich in der Mitte des Lebens so „vom Tod umgeben“, daß er mich stündlich fassen kann; bei der Art meines Leidens muß ich an einen plötzlichen Tod, durch Krämpfe, denken (obwohl ich einen langsamen klarsinnigen, bei dem man noch mit seinen Freunden reden kann, hundertmal vorziehen würde, selbst wenn er schmerzhafter wäre) Insofern fühle ich mich jetzt dem ältesten Manne gleich; aber auch darin, daß ich mein Lebenswerk gethan habe. Ein guter Tropfen Oeles ist durch mich ausgegossen worden, das weiß ich, und man wird es mir nicht vergessen. Im Grunde habe ich die Probe zu meiner Betrachtung des Lebens schon gemacht: viele werden sie noch machen. Mein Gemüth ist durch die anhaltenden und peinlichen Leiden bis diesen Augenblick noch nicht niedergedrückt, mitunter scheint es mir sogar als ob ich heiterer und wohlwollender empfände als in meinem ganzen früheren Leben: wem habe ich diese stärkende und verbessernde Wirkung zuzumessen? Den Menschen nicht, denn, ganz Wenige ausgenommen, haben sich in den letzten Jahren Alle „an mir geärgert“ und sich auch nicht gescheut, es mir merken zu lassen. Lesen Sie, lieber Freund, dieses letzte Manuscript durch und fragen Sie sich dabei immer, ob Spuren des Leidens und des Druckes zu finden sind; ich glaube nicht daran, und schon dieser Glaube ist ein Zeichen, daß in diesen Ansichten Kräfte verborgen sein müssen und nicht Ohnmachten und Ermüdungen, nach denen die mir Abgeneigten suchen werden.
Nun werde ich nicht eher ruhig, als bis ich die Blätter, von der Hand des aufopferndsten Freundes geschrieben und durch mich revidirt, nach Chemnitz absenden kann. Ich selber werde nicht zu Ihnen kommen — so eifrig mir auch Overbeck’s und meine Schwester dazu zureden; es giebt einen Zustand, wo es mir schicklicher zu sein scheint, in die Nähe der Mutter, der Heimat und der Kindes-Erinnerungen sich zu begeben Doch nehmen Sie alles dies nicht als etwas Letztes und Unwiderrufliches. Je nachdem die Hoffnungen steigen oder fallen, muß ein Kranker seine Pläne machen und ändern dürfen. Mein Sommer-Programm ist ausgeführt: 3 Wochen Mittelhöhe (in Wiesen), 3 Monate Engadin, und der letzte Monat davon die eigentliche St. Moritzer Trink-kur, deren beste Wirkung man erst im Winter spüren soll. Dieses Durchführen eines Programms thut mir wohl: leicht war es nicht! Die Entsagung in Allem (— es fehlten Freunde und jeder Verkehr, ich konnte keine Bücher lesen; alle Kunst war ferne von mir; ein Kämmerchen mit Bett, die Speise eines Asketen (die übrigens mir gut gethan hat: keine Magenbeschwerden den ganzen Sommer!) — diese Entsagung war vollständig, bis auf Einen Punkt: ich hieng meinen Gedanken nach — was sollte ich auch thun! — Dies ist aber gewiß meinem Kopfe das Allerschädlichste — aber noch weiß ich nicht, wie ich’s hätte vermeiden können. Genug, für diesen Winter heißt das Programm: Erholung von mir selber, Ausruhen von meinen Gedanken — dies kenne ich seit Jahren nicht mehr. Vielleicht bringe ich in Naumb<urg> eine Tagesordnung zu Stande, bei der diese Ruhe mir zu Theil wird. — Aber erst der „Nachtrag“! „Der Wanderer und sein Schatten.“! —
Ihr letzter Gedanken-brief war Overbeck und mir eine solche Freude, daß ich ihm erlaubte, denselben mit nach Zürich zu nehmen, um ihn den Frauen dort vorzulesen. Verzeihung dafür!
Und Verzeihung für Größeres!
Ihr Freund N.
Adr.: St. Moritz-Dorf, poste restante