1871, Briefe 118–182a
166. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg
Basel 13 Nov. 71.
Endlich, liebe Mutter und Schwester, bekommt Ihr den gebührenden Dank für Eure mich herzlich erfreuenden Briefe, so wie meinerseits neue Mittheilungen. Doch was ist inzwischen passirt, was für Euch von Interesse sein könnte? Von gestern angefangen: daß ich bei Bachofens zu Mittag eingeladen war, wo mehrfaches Bedauern über Deine Nicht-anwesenheit ausgesprochen wurde, liebe Lisbeth. Dann ist der alte Vischer seit 2 Wochen bettlägerig, an schwerem Rheumatismus und Muskelentzündungen. Es geht noch nicht gut. Dann habe ich nun wieder alle Collegien seit Anfang voriger Woche im Gange, 9 Studenten in dem einen, 6 in dem andern. Ich lese ein dreistündiges, ein einstündiges und halte außerdem die Seminarübungen und meine Pädagogiumstunden. Also wöchentlich 11 Stunden, womit ich zufrieden bin. — Deussen hatte sein Wiedersehn so unglaublich eingerichtet, daß ich ihn nur Nachts von 12—2 Uhr zu sehen bekam, und er mir wie ein „Fandom“ in der Erinnerung geblieben ist. — Die jungen Vischers haben mir neulich einmal Weintrauben herüber gebracht. — Zwei Tage habe ich bei Wagners verlebt, wo ich mit der allerwärmsten Herzlichkeit empfangen wurde. Dort habe ich die anziehende Bekannschaft von Frau von Muchanoff (Gräfin Nesselrode) gemacht. Auf dem Bahnhof rief mir noch Wagner Grüße an das „niedliche Schwesterchen“ nach und ob Du nicht bald einmal wieder kämst. Was ich auch den Kindern versprochen habe. — Gersdorff schreibt oft und hübsch aus Berlin. Er hat die Mazziniverse „und im Ganzen, Vollen, Schönen resolut zu leben“ endlich bei Goethe, unter den „geselligen Liedern“ wiedergefunden. Der eine seiner künstlerischen Freunde ist daran, für mich eine Vignette zu erfinden. — Von Frit<z>sch in Leipzig kein Wörtchen; großes Erstaunen meinerseits. — Die Ferientage waren so erwärmend für mich, daß ich hinterdrein noch zum Componisten geworden bin und in großer Schnelligkeit eine lange vierhändige Composition vollendet habe, die ich mit Overbeck spiele: „Nachklang einer Sylvesternacht, mit Prozessionslied, Bauerntanz und Mitternachtsglocke“: ein sehr hübscher Scherz! An Gustav habe ich heute geschrieben: ich wollte ihm gerne noch ein Exemplar des „Socrates“ mitsenden. Schließlich bemerke ich, daß ich gar keine eingebundenen Exemplare mehr habe: weshalb ich Gustav auf Weihnachten vertrösten muß.
Mir geht es gut: aber Grausen! Gestern haben wir ungeheuren Schnee bekommen. Dieser ekelhafte „weiße Koth“! Ich begrüßte ihn mit Empörung. Zum Colleg zu rutschen, nicht mehr zu gehen, in dieser winkeligen Hügelstadt, ist eine große Misère, trostlos, trostlos!
Mit herzlichen Grüßen von Eurem
Fritz.