1871, Briefe 118–182a
127a. An Wilhelm Vischer-Bilfinger
<Lugano, 15. März 1871>
Verehrter Herr Rathsherr,
wir haben heute in Lugano den ersten Regentag, deshalb bleibe ich ohne Gewissensbisse zu Hause und schreibe eine Anzahl Briefe, von denen Sie sofort den ersten erhalten. Die letzte Nacht habe ich gut geschlafen; ich bin jetzt auf dem Standpunkt, daß im Ganzen auf jede schlechte Nacht eine gute und auf jede gute eine schlechte folgt, also immer noch ein sehr mittelmäßiges Wohlbefinden! Dabei mache ich mir viele und regelmäßige Ermüdungen, fast jeder Tag führt mich zu einem neuen schönen Aussichtspunkte, ja gestern haben wir eine größere halbtägige Seefahrt glücklich überstanden und die „Fischerschlucht“ und Tropfsteinhöhlen besucht. Die Gesellschaft ist eine recht gute und einmüthige, so daß wir gestern zu neun Personen bei der Excursion waren. Auch verdient das Hôtel du Parc jedes Lob. Nur war das Klima im Ganzen noch recht winterlich, und immer noch sind die benachbarten Berge mit Schnee bedeckt. Der heutige Regen wird aber als Grenzscheide zwischen Winter und Frühling betrachtet.
Über die Anwesenheit meiner Schwester bin ich sehr froh; wir haben beide zusammen in drei Tagen den Weg von Basel nach Lugano zurückgelegt, den größten Theil der Gotthardstr. mit Schlitten, bei allerschönstem Wetter und in der interessanten Begleitung von Mazzini. Unter unseren hiesigen Bekannten ist die treffliche Familie von Moltke’s Bruder, der die letzten Tage recht leidend war. Auch der General wurde lange Zeit erwartet, doch hören wir jetzt, daß er direkt, und ohne alle Ferien, von Versailles zum Reichstag nach Berlin abreist. Um die andre mit uns verbundne Gesellschaft zu nennen, so giebt es jetzt hier außer zwei preußischen verwundeten Offizieren einen schlesischen Grafen Pfeil mit einer sehr heiteren jungen Gattin, Fräulein von Jordan mit einer Fr. Müller als Begleiterin, Herrn v. Kraker, Mrs. Stuart und mehrere gute Engländer und eine Russin, nicht zu rechnen die kürzre Zeit hier verweilenden Fremden.
Ich schicke Ihnen, damit Sie Sich von meinem verbesserten Aussehen eine Vorstellung machen, eine eben fertig gewordene Photographie.
Jedenfalls bleibe ich noch einige Wochen; denn ich habe jetzt noch nicht die geringste Bürgschaft, daß ich nicht bei dem ersten Tage regelmäßiger Berufsarbeit völlig wieder in den alten Zustand zurückfalle. In den schlaflosen Nächten bin ich mit unter ganz trostlos. Das Höchste, was ich bis jetzt erreicht habe — und auch dies nicht ohne kleine Hilfsmittel — ist leidlicher Schlaf in drei aufeinanderfolgenden Nächten: in summa habe ich seit meiner Abreise ungefähr 10 Nächte geschlafen.
Sie werden mir einen großen Gefallen erweisen, verehrter Herr Rathsherr, wenn Sie mir einiges Geld, vielleicht 2-300 frs. übersenden wollten: ich muß mich auf einige Wochen noch einrichten, und Geldsendungen aus Naumburg bis hierher sind gar zu unbequem. Ich hoffe daß Sie mir die Freiheit dieser Bitte verzeihn.
Ihnen und Ihrer Frau Gemahlin wünsche ich — samt meiner Schwester bestens empfohlen zu sein und zu bleiben. Ihr ergebenster
Dr Friedrich Nietzsche.