1871, Briefe 118–182a
140. An Carl von Gersdorff in Marienbad
Basel 21 Juni 1871.
Mein lieber, theurer Freund,
So bist Du mir denn glücklich erhalten und integer aus den ungeheuren Gefährlichkeiten heimgekehrt. Endlich wieder darfst Du an friedliche Beschäftigungen und Aufgaben denken und jene furchtbare kriegerische Episode als einen ernsten, doch vorübergeflohenen Traum Deines Lebens betrachten. Nun winken neue Pflichten: und wenn Eins uns auch im Frieden bleiben mag aus jenem wilden Kriegsspiel, so ist es der heldenmüthige und zugleich besonnene Geist, den ich zu meiner Überraschung, gleichsam als eine schöne unerwartete Entdeckung, in unsrem Heere frisch und kräftig, in alter germanischer Gesundheit gefunden habe. Darauf läßt sich bauen: wir dürfen wieder hoffen! Unsre deutsche Mission ist noch nicht vorbei! Ich bin muthiger als je: denn noch nicht Alles ist unter französisch-jüdischer Verflachung und „Eleganz“ und unter dem gierigen Treiben der „Jetztzeit“ zu Grunde gegangen. Es giebt doch noch Tapferkeit und zwar deutsche Tapferkeit, die etwas innerlich Anderes ist als der élan unserer bedauerungswerthen Nachbarn.
Über den Kampf der Nationen hinaus hat uns jener internationale Hydrakopf erschreckt, der plötzlich so furchtbar zum Vorschein kam, als Anzeiger ganz anderer Zukunftskämpfe. Wenn wir uns einmal persönlich aussprechen könnten, so würden wir übereinkommen, wie gerade in jener Erscheinung unser modernes Leben, ja eigentlich das ganze alte christliche Europa und sein Staat, vor allem aber die jetzt überall herrschende romanische „Civilisation“ den ungeheuren Schaden verräth, der unserer Welt anhaftet: wie wir Alle, mit aller unserer Vergangenheit, schuld sind an solchen zu Tage tretenden Schrecken: so daß wir ferne davon sein müssen, mit hohem Selbstgefühl das Verbrechen eines Kampfes gegen die Cultur nur jenen Unglücklichen zu imputiren. Ich weiß, was es sagen will: der Kampf gegen die Cultur. Als ich von dem Pariser Brande vernahm, so war ich für einige Tage völlig vernichtet und aufgelöst in Thränen und Zweifeln: die ganze wissenschaftliche und philosophisch-künstlerische Existenz erschien mir als eine Absurdität, wenn ein einzelner Tag die herrlichsten Kunstwerke, ja ganze Perioden der Kunst austilgen konnte; ich klammerte mich mit ernster Überzeugung an den metaphysischen Werth der Kunst, die der armen Menschen wegen nicht da sein kann, sondern höhere Missionen zu erfüllen hat. Aber auch bei meinem höchsten Schmerz war ich nicht im Stande, einen Stein auf jene Frevler zu werfen, die mir nur Träger einer allgemeinen Schuld waren, über die viel zu denken ist! —
Hier folgt eine Abhandlung, die von meinem philosoph. Treiben etwas mehr verräth als es der Titel andeutet. Lies sie mit Wohlwollen; ich habe noch Vielerlei vor und bereite mich auch auf einen Kampf vor, an dem, wie ich weiß, meine Freunde starken Antheil haben werden. Wie viel wäre mündlich zu besprechen, mein theurer Freund! Und wann darf ich einmal auf Deinen Besuch hoffen?
Über Wagner wirst Du durch die Norddeutsche Allg. vielerlei und wie ich denke, nur Gutes gehört haben: auch über die großen Baireuther Pläne. Es ist Alles im schönsten Gange. — In Tribschen hat man Dich in gutem Gedächtniß: ich habe erzählt, daß Du mir Deinen Besuch für den Sommer versprochen hättest.
Mein Befinden ist diesen Sommer besser. Die Witterung ist übrigens höchst wechselvoll. Heute haben wir Sturm und kalten Regen. Im Sommer, vom 15 Juli bis 13 August bin ich in Gimmelwald, bei Mürren, im Berner Oberlande, zusammen mit meiner Schwester. Wir sind dort in einer kleinen, wundervoll gelegnen Pension bereits angemeldet.
Bist Du denn Zeuge des Berliner Einzugs gewesen? —
Nochmals, mein lieber Freund; ich bin glücklich im Gedanken an Deinen baldigen Besuch. Der Rathsherr Vischer (der als Student öfters im Hause Deines Großvaters in Weimar war) freut sich auch auf Dein Hiersein. Denn alle meine Bekannten wissen von Deinen Schicksalen.
Lebe recht wohl und immer besser: Du hast es verdient.
Ich bitte darum, Deinen verehrten Eltern empfohlen zu werden und bin, was ich war,
Dein treuer Freund
Friedrich Nietzsche.