1871, Briefe 118–182a
128. An Franz Overbeck in Dresden
<Lugano, nach dem 22. März 1871>
Mein lieber Freund und College, wundern Sie Sich nicht über den Exceß meiner Schreibunseligkeit? Ihnen so lange nicht zu schreiben! Ich wundere mich sehr darüber! Glauben Sie mir wenigstens, wie getreulich ich Ihrer gedacht und wie dankbar ich mich an viele Züge Ihrer mitleidigen Krankenpflege erinnert habe. Dank Ihnen, Dank Ihrem Pelz bin ich diesmal noch so leidlich weggekommen — in jeder Bedeutung des Wortes. Es war gewiß die höchste Zeit; denn mir kommt es jetzt, beim Nachdenken über den Baseler Januar, so vor, als ob ich in fortwährender traumhafter Überspanntheit aller Nerven herum gelaufen sei und Ihnen in diesem Zustande gewiß nicht sehr bequem gefallen sei. Und Sie haben mich damals ausgehalten und sind mit mir spazieren gegangen etc. etc. Zum Lohne dafür sollten Sie plötzlich an diesen blauen See versetzt werden — nur um Gottes Willen heute nicht, bei abscheulicher norddeutscher Regenluft und dickem pelzartigen Nebel! Aber vielleicht morgen oder übermorgen! Dann würden wir zusammen nach den ersten Blumen des Frühjahrs suchen und sie vielleicht auch eben so sicher hier finden wie in Dresden, das wie ich glaube Sie in diesen Ferien besuchen werden. Wenn wir eine warme Stelle am See finden sollten, so würden wir uns dort, unter kleinen Schlangen und Eidechsen, niederlassen: obwohl ich meine daß der Plauensche Grund auch diese Genüsse zu schaffen vermag. Wenn uns sehr wohl zu Muthe wäre, könnten wir uns sogar auf einen Kahn setzen und uns auf dem See herumfahren lassen, freilich nicht ohne Fußsack und mit der Wahrscheinlichkeit eines Schnupfens. Sie sehen, daß wir hier auch einige norddeutsche Anwandelungen haben, vielleicht mehr als in der Nordschweiz, die, in Folge des dort constatirten „Deutschenhasses“, auch wohl republikanische, durch ein Referendum zu erzielende und jedenfalls nicht norddeutsche Witterungsverhältnisse hat. Hier neigt man zu Preußen: ja wir haben, ohne jeden Mord, neulich eine Geburtstagsfeier Kaiser Wilhelms uns gestatten können und „lebende“ Bilder gestellt, ohne fürchten zu müssen, daß man auf dieselben schießt. Ja es giebt hier harmlose Deutsche, die sogar die Zither zu spielen wagen, ja es muß sogar bekannt werden, daß hier zwei, seit gestern 4 verkappte preußische Offiziere leben, die ohne jede Waffe am See spazieren und an Feiertagen sogar ihre Uniform tragen. Alles zusammen constatirt ein Wohlbefinden in Lugano, welches sicherlich das in Basel übertrifft und vielleicht nur noch vom Wohlbefinden in jeder deutschen Stadt, jedenfalls in Dresden, übertroffen wird. Es wäre also ein schlechter Lohn, wenn Sie für Ihre an mir bewiesene Mildthätigkeit aus Dresden hierher verzaubert würden: weshalb ich daran denke, Ihnen auf eine andre Art meine Dankbarkeit auszudrücken. Hier ist erstens meine Photographie, die nur zum geringsten Theil zeigt, daß ich mich gebessert habe, gerade aber die wichtigsten Veränderungen im Ganglien- und Saugadersystem nicht wiedergiebt, sondern den Mantel über dieselben gedeckt hat.
Mit diesem, so wie mit Ihrem Pelz verbleibe ich der ich war, frierend und fröstelnd und Ihrer herzlich gedenkend
Ihr dankbarer Freund,
Kamerad und College, ja Mitmensch
Friedr. Nietzsche