1871, Briefe 118–182a
164. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg
Basel Donnerstag Mittag. <26. Oktober 1871>
Meine liebe Mutter und Schwester, endlich komme ich dazu, Euch über meine Reise Nachricht zu geben und mich herzlich unseres Zusammenlebens in der Erinnerung zu erfreuen. Es ist alles glücklich von Statten gegangen, ohne Eisenbahnunglück: nur war das Wetter recht trostlos, feucht und kalt. Wirklich haben wir in Naumburg den letzten schönen Nachmittag für unsre Masseneinladung erloost. Nachts, wie ich über den oeden Markt fuhr, gab es bereits einen Regentropfen. Lange mußte ich mit schwindsuchtskranken Personen, die nach Montreux wollten, zusammenreisen, mir zum Ekel: bis endlich der Tag mich erlöste, und ich den letzten Theil der Reise von Bruchsal an allein in meinem Coupé sitzen konnte. Unser Zug kam natürlich um eine Stunde verspätet an. Ich legte mich zeitig schlafen und wachte erst gegen ½9 am Montag Morgen auf. Die drei Tage sind nun unter Examennöthen, Versetzungsconferenzen hingegangen. Ich fand eine Einladung von Turneysen-Merian vor und habe gestern eine Einladung zu Vischers in der Rittergasse zu Sonntag angenommen. Im „Kopf“ sind wieder die drei Stammgäste beisammen, und es schmeckt uns auch wieder — leidlich. — Nach dieser Papelei scheint es als ob ich ganz zum alten Weibe geworden sei. Wetter und guter Schlaf und Kost ist nun besprochen. Sela! —
Ich habe eine sehr angenehme Empfindung, wenn ich an unsere Naumburger Zeit denke. Es arbeitet sich im „Cabinettchen“ so gut als es sich dort schläft und ißt. Dazu waren diesmal die Herren Menschen etwas freundschaftlicher als sonst. Und welche Solennität und Üppigkeit an meinem Geburtstage! Und überhaupt wie behaglich habt Ihr meine Existenz dort eingerichtet. Wehe Euch, wenn Ihr mich so verwöhnt! Ich komme dann alle Ferien nach Naumburg: und Lisbeth käme nie wieder nach Basel! Wehe! Frau Vischer-Heusler fragte mich, ob sie noch immer „Heimweh“ nach Basel habe. Da hört doch Alles auf.
Montag fängt unsre Schule wieder an, Donnerstag ist das Rektoratsfest und das akademische Zunftessen. Frau Heusler ist nach Davos abgereist. Die drei neuen Collegen sind eingetroffen, alle (bis auf Immermann) in Wohnungsjammer. Neumann wohnt mit seiner Frau immer noch in den drei Königen. Er hat, da gar kein passendes Logis für 2 Leute frei werden wollte, endlich die Hiss’sche Etage am Petersplatz gemiethet, für 1800 frs., kann sie aber jetzt noch nicht beziehn. Eycken wohnt in einer schlauchartigen Wohnung, in dem kleinen Häuschen am selben Platz. E. hat seine Mutter mit, eine Postmeisterswittib. Bei Vischers ist er durch das Dienstmädchen angemeldet worden „Herr Professor Postmeister“, zur Erinnerung an Liebermeister.
Im Hause selbst ist alles scheinbar ungestört. Das Problem der Portière ist von mir noch nicht gelöst. Es ist weder kalt noch warm bei mir. —
Nun lebt recht, recht wohl und habt schönsten Dank für Eure Liebe und Güte.
Fritz.
Mein Klavier klingt wieder herrlich.