1873, Briefe 287–338a
324. An Carl von Gersdorff in Venedig
Basel Montag. <27. Oktober 1873>
Mein lieber Freund, sofort schreibe ich wieder, weil ich aus Deinem Schreiben ersehe, dass ein Brief von mir nicht an Dich gelangt ist: nun wäre daran nichts gelegen, wenn nicht gerade in diesem Briefe als Einlage ein Brief von Rau gelegen hätte, den Rau selber als sehr wichtig bezeichnet und um dessen Bestellung er mich bat, weil er Deine Adresse nicht hatte. Wende Dich also an die Post in Bologna: dort muss sich poste restante mein Brief sammt der Einlage vorfinden. Du hattest mir früher geschrieben, dass Du 10 Tage in Bologna bleiben würdest: auf diese Notiz hin konnte ich es verantworten, wenn ich dorthin adressirte. Hoffentlich giebt es kein Malheur.
Mittwoch reise ich nach Bayreuth ab: wirst Du Dich wundern zu erfahren, dass die nöthige Anzahl von Vertretern des Patronats nicht zusammengekommen ist, so dass die Vereinigung am 31 d. M. vielmehr einen privaten als einen offiziellen Character haben wird. Man hat von mir einen „Aufruf an die Deutschen“ verlangt: ich habe ihn an einem Vormittag (nämlich vorigen Mittwoch) gemacht, und bereits am Sonnabend Abend bekam ich ihn fertig aus der Druckerei. Ich sende ein Exemplar an Dich mit der Bitte einer Beurtheilung: natürlich hat er jetzt noch nicht die ihm erst in Bayreuth zu ertheilende Gültigkeit: weshalb ich bitte, Dein Exemplar vorläufig geheim zu halten. Ich denke an eine Art der Unterzeichnung, wie wir sie damals in München ausgedacht haben: so dass die einzelnen Stände und Gesellschaftsklassen vertreten sind. Bist Du eventuell bereit, Deinen Namen mit darunter zu setzen? Du wirst an Rohde und Overbeck Kameraden haben.
Grosse Befürchtungen, die ich in meinem Bologna-Briefe an Dich andeutete, sind fast ganz gehoben: denn Fritzsch hat endlich geschrieben und sehr artig und warm. Er bittet um das Manuscript der Nr. 2 der U. B.; und versichert, dass er noch in diesem Jahre zu einer 2ten Auflage der Nr. 1 schreiten müsse, wenn der Verkauf in der Weise der letzten Wochen fortgehe. Honorar-Bedingungen acceptirt. Für die neue Auflage der „Geburt“ ist der Januar fixirt. Gespenst Nielsen ist bei den Russen.
Die grünen Hefte der „Grenzboten“ haben neulich ein Non plus ultra gebracht unter dem Titel „Herr Friedrich Nietzsche und die deutsche Kultur.“ Alle Gewalten sind gegen mich angerufen, Polizei Behörden Collegen, ausdrückliche Erklärung, dass ich an jeder deutschen Universität in Verschiss gethan würde, Erwartung dass man das Gleiche in Basel thut. Mittheilung, dass ich durch ein Kunststück Ritschl’s und die Dummheit der Basler aus einem Studiosus zum ord. Prof. geworden sei usw. Schmähungen auf Basel als „Winkeluniversität“, ich selbst werde als Feind des deutschen Reiches denuncirt, den Internationalen zugesellt usw. Kurz ein wohl zu empfehlendes heiteres Documentum. Schade, dass ich Dir’s nicht zusenden kann. Selbst Fritzsch bekommt einen Tritt: es wird schmählich befunden, dass ein deutscher Verleger mich genommen habe. Also, liebster Freund, unsre Nr. 1 hat, um mich à la Fritzsch auszudrücken, „Eingang bei dem Publikum gefunden.“
Neun Basler Zeitungsblätter haben nun über mich gesprochen, in allen Tonarten, und in summa höchst ernsthaft in Vergleich zu dem Grenzboten-Wütherich und Frevler.
Mit Rohde habe ich gute Vorsätze ausgetauscht: für nächsten Herbst ist eine Zusammenkunft aller Freunde verabredet: wobei wir natürlich auf Dich wie auf uns selber rechnen. Da soll schon etwas herauskommen. Versammlungsgegend ist vorläufig der Genfer-See. Indessen darüber wollen wir später berathen.
Das Rüsselgespenst ist wieder da, aber nicht im Kopf!
Alle Freunde grüssen von ganzem Herzen.
Der ich bin und verharre als Euer
Liebden Getreuer
F. N.