1873, Briefe 287–338a
299. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg
<Basel, 9. März 1873>Sonntag.
Meine liebe Mutter und Schwester,
mein Stillschweigen ist wirklich sträflich da ich nichts als mein fortwährend einseitig festgehaltenes und abgezogenes Denken und Arbeiten vorschützen kann, und wie Ihr wißt, doch manche Minute kommt, in der man einen Brief schreiben kann und sollte. Im Übrigen bin ich jetzt auch allen Freunden, ohne Ausnahme, Briefe schuldig, den Bayreuthern sowohl wie den Florenzern, oder Rohde oder Gersdorff oder Fuchs oder usw. Kurz, niemand weiß etwas von mir, weil ich ziemlich fleißig bin. Dazu gieng es mir eine Zeitlang mit der Gesundheit und in Folge dessen mit der Arbeit nicht recht, und ich schrieb nicht, weil ich verdrießlich war. Seit den letzten Tagen erfreue ich mich aber einer rechten guten Gesundheit, und es hätte keiner erneuten Mahnung bedurft — heute hätte ich doch geschrieben. Übrigens danke ich Dir, liebe Lisbeth, sehr für Deine Briefe: Deine Freude über das werdende Buch und Dein Versprechen, im Sommer zu kommen, haben in gleicher Weise einen vollen Anspruch auf meine Dankbarkeit, und ich freue mich auf Pfingsten, wo Du eintreffen wirst und wo hoffentlich auch mein Buch im Ganzen und Großen fertig sein wird. Es wäre ja sehr angenehm, wenn Du die vortreffliche Wohnung vom vorigen Sommer wieder haben könntest: sonst hatte sich Frl. Kestner, die alles bedenkt, nach einer Wohnung in Kleinbasel in Deinem Interesse umgethan. Doch glaube ich unbedingt, daß es so, wie im vorigen Sommer für uns besser und bequemer ist.
Hier hat es mehrere Festlichkeiten gegeben, an denen ich zum Theil theilgenommen habe. ZB. bei alten Vischers, zur Feier von zwei Verlobungen (des Gelzerschen Brautpaars und des Dr. Speiser); dann war bei Vischer-Bischoff’s ein Ball, hundert Personen waren da, vorher führten Sally, Frau Walter und einige Herren eine Operette auf. Dann war ich einen Abend bei den guten Siebers, mit Socin und Jakob Burckhardt. In Florenz ist die Hochzeit des Hr. Monod gewesen, ich habe zur rechten Zeit ein Geschenk geschickt, nämlich eine vierhändige Composition, betitelt „Une Monodie à deux“: wenn Du weißt, was eine Monodie ist, so verstehst Du auch die für eine Ehe ganz symbolische Wendung. Übrigens hat den linken Part Monsieur Monod, den rechten Part Madame Monod zu spielen. Auch haben mir beide schon brieflich gedankt.
Ungeheure Freude hat uns allen eine Nachricht gemacht, die beiden Bildhauer die Freunde und Protegé’s von Gersdorff Rau und Otto haben beide, bei einer Bewerbung in Wien,um das Tegetthof Denkmal Preise bekommen, der eine mit 2000 östr. Gulden, der andre mit 1000 und gehen nun nach Italien. Das Werk von Rau (der den Prometheus in meinem Buche gemacht hat) wird als Werk gewaltigster und originaler Schöpferkraft bezeichnet. Gersdorff war in Florenz, als die Nachricht kam: Frl v Meysenbug sagte, er sei vor Jubel fast wie ein Bacchant auf der Straße herumgelaufen. Übrigens ist die gute Meysenbug sehr betrübt und schreibt mir die schwermüthigsten langen Briefe.
Für die Intervention bei der Ritschl-photographie danke ich bestens: ich habe auch an den stud. Götz eine Photogr. geschickt, wahrsch. ist sie nicht angekommen.
Frl. Olga Herzen erinnert Dich, liebe Lisbeth, an die Photographie, die bewußte, versprochne, ebenso hier Clara Turneysen.
Gersdorff hat in Florenz noch etwas ganz besonders Rührendes gemacht, er hat, nach den großen Anstrengungen des Tags und nachdem er alle Abende bei Frl Meysenbug verbracht hat, doch noch während der Nacht — abgeschrieben und was? meine Vorträge über die Zukunft der Bildungsanstalten; jetzt schreibt er mir glücklich, daß er sie nun ganz besitze, „weil sie zu schön seien, als daß ihre Existenz auf einem einzigen, allen Gefahren ausgesetzten Exemplare beruhen dürfe.“
Seht Ihr, das sind Freunde! Herr Je! In Rom hat Gersdorff Wilamowitz den Schäker gesehen, ist aber geflüchtet, hinter den breiten Rücken eines antiken Herakles. Übrigens hat besagter W. wieder ein Pamphlet veröffentlicht, gegen Rohde, doch wir haben gelacht, es ist doch vorbei.
Nun, meine liebe Mutter und Schwester speist vergnügt zu Mittag, wenn Ihr es noch nicht gethan habt. Ich werde es jetzt thun und empfehle mich Euch
bestens als
Euer Fritz.