1873, Briefe 287–338a
296. An Erwin Rohde in Kiel
<Basel, 21. Februar 1873>
Geliebter Freund, ich höre nichts von Dir und will von Herzen wünschen, daß nicht ein Übelbefinden die Ursache davon ist. Denn es ist ein Kunststück in dieser Jahreszeit nicht krank zu sein; ich selbst schleppe mich mit einem grippenartigen Zustande von Woche zu Woche, doch in aller Heiterkeit des Gemüths, wenn gleich arg verschnupft. Jetzt ist übrigens das Wetter wonnevoll, und zu Fastnachten will ich einen Versuch machen, den Vierwaldstätter See für ein paar Tage heimzusuchen: wärest Du dabei! Man hat hier das Schöne doch in beneidenswerther Nähe: und wenn ich Dir sage, daß ich Ostern, nach mehrjähriger Gewohnheit, auf eine Woche nach Montreux gehe, so ist es doch ein rechtes Glück, so etwas ohne viel Aufhebens jederzeit ausführen zu können. — Inzwischen bin ich leidlich thätig gewesen und habe an meinen alten griechischen Philosophen gearbeitet, über welche nach den Osterferien ein opusculum erscheinen zu lassen eine angenehme Hoffnung ist. Bis dahin wünsche mir Ruhe Gesundheit und Freiheit von Unterbrechungen verstimmender Art: denn die Unterbrechungen an sich sind mir sehr lieb und nothwendig, vorausgesetzt daß sie mich nicht krank und besorgt machen. Die Philosophie ist eine Person, die ich wechselweise mit Liebe und Haß verfolge: mitunter flüchte ich sogar aus Ekel oder Wuth. Dann sind mir Unterhaltungen anderer Art Bedürfniß; so habe ich in den letzten Tagen ein Hochzeitsgeschenk für Frl. Olga Herzen gemacht, die sich im März mit Hr. Monod verheirathet: eine vierhändige Composition, für das Ehepaar bestimmt, und mit dem Titel „Une Monodie à deux.“ Sie ist gut gerathen und würde mir keine Bülowschen Briefe zuziehen.
Aus Bayreuth habe ich einen langen Brief von Frau W<agner>. Von dem Hamburger und dem Berliner Conzert haben sie 12000 Thl. mitgebracht. Über die Hamburger Auszeichnungen schrieb Frau W. besonders beglückt: Deine Vaterstadt hat den besten Takt von der Welt bewiesen. — Liesest Du das „musikalische Wochenblatt“? Der Dr Fuchs hat sich Lotze und Gervinus als aestheticos vorgenommen und prügelt und haut tapfer darauf los. Neulich habe ich in einem „evangelischen Anzeiger“ über mich Einiges gelesen, was mir auf Wochen hinaus Heiterkeit verschafft, ich wurde „der ins Musikalische Übersetzte Darwinismus“ genannt, meine Theorie sei der „Developpismus des Urschleims“ usw: kurz die vollendete Tollheit! — Ein Buchhändler hat mir angezeigt, im Börsenblatte (im buchhändl.) sei ein neuer Artikel des Dr. W.-Möllend. gegen mich (oder uns) angekündigt — wieder bei Gebrüder Bornträger. Ich habe aber verboten mir dergleichen zuzusenden, kenne auch keinen Menschen, der es gelesen hat, hoffe übrigens daß Du ebenso verfährst.
Nun muß ich zu Mittag essen, doch werde ich auf Dich mit Overbeck und Romundt anstoßen, die ebenso wie ich Deiner immer mit Betrübniß gedenken, mit Betrübniß daß Du nicht hier bist! Ach, der Teufel! Warum nicht!
Dein
F. N.