1873, Briefe 287–338a
301. An Carl von Gersdorff in Rom
<Basel, 5. April 1873>
Theuerster Freund,
die Telegraphen haben zu thun und fliegen bald nach Heidelberg bald Nürnberg bald Bayreuth. Denn denke Dir, morgen reise ich auf acht Tage fort, treffe übermorgen mit Rohde zusammen — und wo? natürlich in Bayreuth. Ich begreife selbst noch nicht, wie schnell und plötzlich sich alles dies gemacht hat. Vor 8 Tagen dachte Keiner von uns an so etwas. Schon jetzt wandelt mich Rührung und Ergriffenheit an, wenn ich mir denke, wie wir selbander auf dem Bahnhofe dieses Ortes ankommen und nun jeder Schritt Erinnerung wird. Ich glaube doch, es waren die glücklichsten Tage, die ich gehabt habe. Es lag etwas in der Luft, das ich nirgends sonst spürte, etwas ganz Unsagbares, aber Hoffnungreichstes. Was werden wir dort zusammen denken, Dich immer natürlich mit einschließend! Meine Freude ist heute eine ganz unsinnige, denn es scheint mir, daß alles wieder so schön zu Stande kommt, wie ein Gott es sich nicht besser wünschen könnte. Ich hoffe, daß mein Besuch wieder gut macht, was mein weihnachtliches Nichtkommen schlecht gemacht hat und danke Dir recht von Herzen für Deinen einfachen und kräftigen Zuspruch, der mir wieder die Augen rein machte und die dummen „fliegenden Mücken“ verscheuchte, an denen ich zuweilen laborire.
Überhaupt, mein Freund, es giebt so Vieles in Deinen Briefen, dessentwegen ich immer das Glück preise, einen solchen Freund zu haben; und ich genieße schon eine eigne Freude, die kräftig geschwungenen und freien Züge Deiner Handschrift zu sehen, denn sie verrathen mir schon alles, wie es jetzt mit Dir steht. Daß Du übrigens meine Vorträge über die Zukunft der Bildungsanstalten abgeschrieben hast, das ist eine ganz eigne Geschichte nach eigner Melodie zu singen und nie zu vergessen. Ich habe mir dabei meine Gedanken gemacht und mache sie mir noch, so oft mir diese Geschichte einfällt. Sie fällt mir oft genug ein. Zuletzt mache ich noch einmal den sechsten Vortrag, nur damit Du etwas Fertiges von mir in den Händen hast.
Nach Bayreuth bringe ich ein Manuscript „die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen“ mit, zum Vorlesen. Von der buchmäßigen Form ist aber das Ganze noch sehr entfernt, ich werde immer strenger gegen mich, und muß noch viel Zeit vergehen lassen, um eine nochmalige Darstellung (die vierte desselben Thema’s) zu wagen. Auch war ich genöthigt, die sonderbarsten Studien zu jenem Zwecke zu treiben, selbst die Mathematik trat in die Nähe, ohne Furcht einzuflößen, dann Mechanik, chemische Atomenlehre usw. Ich habe mich wieder auf das herrlichste überzeugt, was die Griechen sind und waren. Der Weg von Thales bis Sokrates ist etwas Ungeheures.
— Sehr hübsch ist Deine Begegnung mit Wilamowitz und Deine Rettung, die wohl ein Trankopfer werth war. Weißt Du, daß der Schäker ein zweites Heft unter gleichem Namen hat drucken lassen, mit Schimpfereien und Sophistereien und eine Widerlegung nicht werth. Besonders gegen Rohde gerichtet wendet sich zum Schluß die Schrift in’s Allgemeine, weg von den zwei „verrotteten Gehirnen“; die Worte Davids Strauss gegen Schopenhauer werden wörtlich auf mich angewendet, und so kommt ein Bild von mir heraus als ob ich Herostrat, Tempelschänder usw sei. Das Schriftstück ist von Rom aus datirt. Neulich wurde ich in einem Blatt als der „in das Musikalische übersetzte Darwinismus und Materialismus“ bezeichnet, das Ureine wurde mit „Darwin’s Urzelle“ verglichen: ich lehre den „Developpismus des Urschleims“! Ich finde, daß die geehrten Gegner verrückt zu werden anfangen. Irgend ein Bonus Meyer ließ neulich über Wagner’s Bayreuther Werk seine Meinung laut werden, daß selbst die „brutale Bauwuth der Römer“ so etwas nicht gewagt habe. Der Haß scheint in hellen Flammen zu sein.
Das habe ich Dir erzählt, daß ich zu Frl. Olga Herzens Verheirathung eine Musik gemacht habe. Sie und ihr Monod haben mir darauf geschrieben, letzterer aber sehr als Franzose und politischer Mensch, was mir bei einer so privaten Sache nicht am Platze schien. Muß man denn sofort gleich von les tristes événements des dernières années reden? Mir wird sofort übel dabei. Ich bedaure die arme Florentinische Freundin sehr und weiß gar nicht zu helfen. Sie hatte mich eingeladen, Ostern zu ihr zu kommen; mir fehlt es aber an zusammenhängenden Ferien. Ich habe nur 8 Tage und nach einer Examenunterbrechung, die mich hier zu sein zwingt, noch einmal 8-12 Tage: nichts mehr! Da kann ich nicht nach Florenz.
Unter mir, ich meine im ersten Stock des Hauses arbeitet Prof. Overbeck, unser werthgeschätzter Freund und Gesinnungsgenosse, an einer Brandschrift „die Christlichkeit unserer jetzigen Theologie.“ Unser Haus wird einmal berüchtigt werden.
Romundt hat sehr viel Glück als Academiker: die Studenten haben ihm mehrfach die größte Theilnahme verrathen. Er ist in dem rechten Fahrwasser und es kommt mir so vor als ob wir Alle es wären. Allein mein armer Rohde wandelt einsam dort oben herum. Da muß nachgeholfen werden.
In diesen Tagen ist der junge Prof. Vischer-Heusler in Rom eingetroffen: ich habe ihm Deine Adresse gegeben.
Deinem Herrn Vater sage meine Empfehlungen. Wann kommt denn Rau nach Rom? Und was für eine Adresse hat er? (nämlich bisher in Berlin). Nun nochmals, geliebter Freund, herzlichen Dank für Deine zwei Briefe, ich wollte ich wäre bei Dir. Übermorgen aber tauschen wir die Rollen; dann sitze ich bei W<agner>s und meine, Du säßest gerne dabei.
Getreulich
Dein Fried. Nietzsche