1873, Briefe 287–338a
298. An Carl von Gersdorff in Rom
<Gersau, 2. März 1873>
Mein lieber Freund, in Basel trommelt man während der drei Fastnacht-tage so entsetzlich, daß ich mich hierher, nach Gersau, am Vierwaldstätter See, auf diese Zeit geflüchtet habe: als wo ich in Nebel und Regen, ohne die Möglichkeit spazieren zu gehen, mäßig mißvergnügt, aber doch wenigstens in Ruhe sitze. Hier endlich will ich Dir meinen längst geschuldeten Brief schreiben und hoffe, daß die Florentiner Freundin ihn Dir „übermittelt“ (wie Tischendorf in Leipzig immer zu sagen pflegte) Ich will gleich mit der Hauptsache beginnen: neulich Abends habe ich ein Fest gefeiert, eigentlich nur zu Deinen und Deiner Freunde Ehren: es müssen Dir, bei dem wiederholten Gläserklingen und dem fortwährenden Herbeiwünschen, die Ohren kräftiglich geklungen haben. Ich setze voraus, daß Du das Resultat des Tegethoff-Preisausschreibens weißt und daß Du wie ich, in einen wahren Entzückens-Taumel gerathen bist: also Rau hat den zweiten Preis (mit 2000 Gulden) und Otto den dritten (mit 1000 Gulden), den ersten hat der Baseler Bildhauer Schlöth in Rom, doch ist unter Kunstkennern kein Zweifel, daß Rau den ersten und zwar bei weitem den ersten verdient hat und daß nur durch einen herbeigezogenen Laien die letzte Entscheidung so absurd ausfiel. Ich las und las immer wieder über die Entwürfe Lissa II und fortes fortuna juvat und vor allem über den ersteren, alle Zeugnisse waren voller Enthusiasmus: das sei nicht von Michel Angelo entlehntes Räuspern, sondern eine gewaltige Urkraft, die sich hier in die Erscheinung dränge usw. Kurz ich vermuthete Rau und war außer mir vor Vergnügen, als ich endlich die Entscheidung hörte. Den Ottoschen Entwurf hat übrigens die Wiener Kunstkritik für ein Werk von Begas gehalten und sich also in einer für Otto höchst schmeichelhaften Weise geirrt. Die Namen der Sieger gehen durch alle Zeitungen, es waren 22 Entwürfe eingesandt. Ich will an Rau schreiben, weiß aber kein Mittel ihn zu erreichen als etwa durch einen per adr. von Begas bezeichneten Brief. Ich habe mich seit lange über nichts mehr gefreut und habe, an diesem wichtigen Grenzpunkte im Schicksale Deines Rau, wirklich das ganze Herz voll Segenswünschen — daß er ja auf der guten großen Bahn bleibt. —
Übrigens finde ich, daß Du selbst mit Deinem Geschmack an beiden Künstlern glänzend legitimirt dastehst. Ich gratulire, mein lieber Freund und wünsche Dir nochmals für Deine italiänischen Erfahrungen den gleichen auslesenden deutschen Geschmack und Ernst, den Du dort erwiesen hast.
Denke Dir, daß ich, seit Deiner Abreise lange Zeit unwohl war, zu Bett liegen mußte und bis heut zu Tage mich nicht völlig erholt habe. Ein langwieriger Grippenzustand mit unerschöpflichem Schnupfen. Inzwischen ist das Preisausschreiben des Allg. Deutschen Musikverein’s publicirt worden: ich habe durchgesetzt, was ich wollte, nämlich bedeutende Erhöhung des Preises (auf 300 Thaler statt 100 oder 50, wie ursprünglich beabsichtigt war) und Zahlung desselben als Patronatsschein. Die Preisrichter sind außer mir Prof. Heyne in Basel und Prof. Simrock in Bonn. — Von dem Meister und Frau Wagner habe ich herrliche Briefe, es kam zu Tage, was ich gar nicht wußte, daß Wagner über mein Nichtkommen zu Neujahr sehr gekränkt gewesen ist — Das hast Du gewußt, liebster Freund, aber mir verschwiegen. Aber alle Wolken sind verscheucht und es ist ganz gut, daß ich nichts wußte, denn mancherlei kann man nicht besser, sondern höchstens noch schlechter machen. Gott weiß übrigens, wie oft ich dem Meister Anstoß gebe: ich wundere mich jedes mal von Neuem und kann gar nicht recht dahinter kommen, woran es eigentlich liegt. Um so glücklicher bin ich, daß jetzt wieder Frieden geschlossen ist. Kennst Du die wundervolle Schrift Wagner’s, die jetzt eben zum ersten Male gedruckt ist „über Staat und Religion“, vom Jahre 1864, zuerst als privatestes Mémoire an den bayrischen König verfaßt? Sie gehört zu dem Tiefsten aller seiner litterarischen Produkte und ist im edelsten Sinne „erbaulich“. — Sage mir doch Deine Ansicht über das wiederholte Anstoßgeben. Ich kann mir gar nicht denken, wie man Wagner in allen Hauptsachen mehr Treue halten könne und tiefer ergeben sein könne als ich es bin: wenn ich es mir denken könnte, würde ich’s noch mehr sein. Aber in kleinen untergeordneten Nebenpunkten und in einer gewissen für mich nothwendigen beinahe „sanitarisch“ zu nennenden Enthaltung von häufigerem persönlichen Zusammenleben muß ich mir eine Freiheit wahren, wirklich nur um jene Treue in einem höheren Sinne halten zu können. Darüber ist natürlich kein Wort zu sagen, aber es fühlt sich doch — und es ist dann verzweifelt, wenn es gar Verdrießlichkeiten Mißtrauen und Schweigen nach sich zieht. Ich hatte diesmal keinen Augenblick daran gedacht, solchen heftigen Anstoß gegeben zu haben; und ich fürchte immer durch solche Erlebnisse noch ängstlicher zu werden als ich es schon bin. — Bitte, liebster Freund, Deine offene Ansicht! —
Meine Schrift wächst und gestaltet sich zu einem Seitenstück zur „Geburt“. Der Titel wird vielleicht „der Philosoph als Arzt der Cultur“. Ich will eigentlich Wagner zu seinem nächsten Geburtstag damit überraschen. —
Zur Vermählungsfeier von Frl. Olga habe ich eine eigene vierhändige Musik nach Florenz geschickt, mit dem Titel „Une Monodie à deux“: der als Prognostikon einer guten Ehe aufgefaßt werden möge. Der Spieler rechts ist Madame Monod, der Spieler links Monsieur Monod.
Und nun herzlich geliebter Freund und „im Irrgarten der Liebe taumelnder Cavalier“, (so nennt Dich Wagner) habe herzlichen Dank für Deinen reichen und glücklichen Brief und denke gern Deines
Fr. Nietzsche