1873, Briefe 287–338a
294. An Erwin Rohde in Kiel
Basel. 31 Jan. 73
Herzlich geliebter Freund
ich war krank und lag zu Bett, als Dein erster Brief kam, und bin noch nicht wohl, jetzt wie Dein zweiter Brief eintrifft. Das ist schön, daß Du Dich durch mein Stillschweigen nicht hast abschrecken lassen. Ich habe mit größtem Dank Deine reichliche Blüthenlese aus der ersten Auflage angenommen und ausnahmelos benutzt: möge ich es Dir in allem Recht gemacht haben. Eine kleine Umgestaltung der ersten drei Seiten war alles Umfänglichere, zu dem ich mich, bei der Correktur, verstehen konnte: sonst habe ich mancherlei in einzelnen Worten noch nachgebessert. Keine neue Vorrede, sondern alles, wie es war. — Inzwischen bin ich Preisrichter geworden: der allg. deutsche Musikverein hat einen Preis von 300 Thl. auf eine 5 Bogen Schrift populärer Natur über Wagner’s Nibelungendichtung ausgesetzt: Prof. Heyne Prof. Simrock und ich sind die Richter, ersterer auf meinen Vorschlag. Das ist doch ein anständiges Collegium. Den Preis habe ich, von ursprünglich 100 Thl. auf 300 emporgeschraubt und freue mich des gelungenen Werkes. — Ich denke über Organisation eines schweizerischen Wagnervereins nach. Beiläufig: liest Du das musikal. Wochenblatt? Von Wagner waren herrliche Reiseberichte darin: von mir ein furioser Angriff auf Alfred Dove. Kannst Du nicht in irgend einer Ostern-Mußezeit, einen kleinen Aufsatz für dies Wochenblatt machen, ich meine von unserem Laienstandpunkte aus: etwas über unsre Bayreuther Hoffnungen, etwa anknüpfend an unsre dort verlebten Pfingsttage. Es ist das einzige Blatt, wo wir von der Leber und zu den Unserigen reden können. Gestern schrieb der Italiener Gersdorff, Florenz-berauscht. Du kommst auch im Briefe vor, folgendermaßen: „Rohdes Stellung und unsre Wünsche für ihn habe ich mit Frl von M<eysenbug> besprochen und unseren Freund ihrer Fürsorge empfohlen. Wenn sie Gelegenheit findet ihn allein zu sehen, so wird sie Herrn Villari die Sache vortragen. Dieser ausgezeichnete Mensch, den ich neulich kennen lernte, wird sicherlich alles thun, was in seiner Kraft steht. Er hat sehr großen Einfluß; aber freilich auch die Feinde, die Pfaffen und Jesuiten, sind mächtig und rühren sich wie die Maulwürfe“
Meine Bildungsvorträge übersetzt Fr. v M<eysenbug> in’s Italiänische und wird sie dann in italiänischen Zeitschriften erscheinen lassen: sie werden noch naiver klingen, es ist himmlisch. — Ich bin sehr vergnügt daß Frau Wagner einige Freude an meinen „Vorreden“ hat. Du kennst sie nicht? Ein Hauptstück ist drin, das erste „über das Pathos der Wahrheit.“
Ich klage eigentlich gar nicht mehr, außer wenn ich an Dich denke, mein geliebter Freund. Warum mußt Du dort oben wie ein Eisbär einsam hausen? Was macht denn die Universitätsgeschichte? Noch nicht fertig? — In Freiburg empfindet man, nach neuen Berichten, sehr stark die Dummheit, die man mit Keller begangen hat.
Eine kleine höchst auffallende Schrift, die 50 Dinge falsch, aber 50 Dinge wahr und richtig sagt, also eine sehr gute Schrift — versäume nicht zu lesen: der Titel würde unsereinen nicht anziehn, darum rathe ich sie Dir eigens an. Paul de Lagarde, über das Verhältniss des deutschen Staates zu Theologie Kirche und Religion. Göttingen 1873 Dieterichsche Verlagshdl.
Sodann lese ich Hamann und bin sehre erbaut: man sieht in die Gebärzustände unsrer Deutschen Dichter- und Denker-Kultur. Sehr tief und innig, aber nichtswürdig unkünstlerisch.
Ich schreibe übrigens wieder über die alten griechischen Philosophen: und irgendwann kommt ein Manuscript, zur Probe, an Dich. — Hast Du denn das Programm des Prof Overbeck, an dem Du einen treuen freundschaftlich gesinnten Menschen hast, bekommen? Er schickte es gerade während der Sturmfluthen. Wir fürchteten, es möchte zu Grunde gegangen sein.
Über Brockhaus schreibst Du, was wir Alle wissen, empfinden und bedauern. Er ist ein durchaus anständiger Mensch, das ist wahr und im vollen Maße bewährt. Im Übrigen hole ihn der Teufel! — Was hat denn der alte Brockhaus zu Frau W<agner> über mich gesagt?
Ich habe recht an Dich und Euch gedacht, in der Zeit der Concerte. Also im Sommer Bayreuther Concil! Wir als die Bischöfe und Würdenträger der neuen Kirche! Ich möchte so gern noch etwas litterarisch zur Förderung unsrer Sache thun und weiß nicht wie. Alles, was ich projektire, ist so verletzend, aufreizend und der Förderung zunächst entgegenwirkend. Daß man selbst mein schwärmerisch gemüthliches Buch so übel genommen hat! Sonderbare Menschen! Was soll unsereins nur machen! Ausrufezeichen und Fragezeichen. Es lebe die Freundschaft und der treueste Freund Erwin Rohde.