1873, Briefe 287–338a
313. An Richard Wagner in Bayreuth
<Basel> Freitag den 18 Sept. 1873.
Geliebter Meister,
zuerst melde ich mit der einem Patrone zukommenden Würde, dass ich am 31 Oct. in Bayreuth eintreffen werde, um zugleich die Rechte von drei anderen Patronen (Gersdorff Rohde und meine Schwester) stellvertretend auszuüben. Zwar beginnen wir um dieselbe Zeit unser Winterhalbjahr: aber von zwei Dingen, die nöthig sind, ist eins immer nöthiger als das andre; und zumal in diesem Falle, wo es sich nicht um ein „mehr oder weniger nöthig“ sondern um eine Noth handelt. Ich wollte, ich könnte heute versprechen einen Sack Goldes mitzubringen; das steht freilich nicht in meiner Macht. Aber einen Sack voll guter Hoffnungen von dort mit fortzuschleppen, hoffe ich heute schon von Herzen, weil jene Noth mir bis an den Hals geht und rein gar nichts mehr übrig bleibt als auf die Hoffnung selbst zu hoffen. Ihr Sendschreiben an die Patrone warf mich in jene Stimmung zurück, mit der ich Ostern Bayreuth verliess: gegen die es gar keine Rettung giebt als etwas zu produciren und von Zeit zu Zeit einmal den Kaisermarsch, damit wir doch wenigstens noch „ein Symbol haben“, uns zu erinnern, wie alles noch einmal „gut werden kann“ — da Eins doch gut geworden ist, der deutsche Soldat.
In der That, meine erträglichsten Empfindungen sind jetzt militärische Empfindungen; und wenn ich schon zumeist von Schlachten und belagerten Städten träume, so geht mein waches Denken erst recht auf Angriff und Streit aus. Das ist auch ein Mittel, zur Ruhe zu kommen, wenn der faule Frieden ringsum einem nur Unruhe schafft.
Gersdorff, der treueste Freund — der mir, so lange er um mich war, meine rechte Hand und mein linkes Auge war — hat mich seit vorigem Montag verlassen und weilt mit Rohde zusammen in Genua. Wir, nämlich ich mit Overbeck und Romundt, haben eine wahre Nänie bei seinem Abschiede gesungen; ein unwiederbringlich schöner und seltsamer Sommer nahm mit ihm für immer von uns Abschied.
Jetzt eben schreibe ich meinen ersten längeren Brief wieder, nach einem ganzen halben Jahre, während dem Gersdorff alles Briefliche mit rührender Aufopferung besorgt hat. Meine Augen erlauben mir das Lesen wieder und auch ungefähr das Schreiben: obschon mich dies immer noch schnell erschöpft und mir Schmerzen macht. Mein Arzt ist aber voll der besten Hoffnungen. Nur über die Entbehrung wirklicher Musik bin ich mitunter geradezu ausser mir; wenn man nichts Rechtes mehr sieht, weder an den Menschen noch an den bildenden Künsten und gar nichts Tröstliches erfährt, so genügt es dann freilich nicht immer, sich seine eigene Musik vorzumachen; auf die aber und nur auf die bin ich reducirt, da ich nicht mehr Noten lesen darf oder kann. Vor dem Winter fürchte ich mich etwas, da mir bei Lichte zu lesen oder Collegien zu halten verboten ist. In summa bleibt nichts übrig als nachzudenken: und zwar denke ich über meine zweite „Zeitungemässheit“ nach. Auf zwölfe ist es abgesehen, und der Plan dazu entworfen. Mein erstes Heft hat hier eine unbeschreibliche Wirkung gethan; eine toll-feindselige Zeitungslitteratur ist gegen mich entstanden, aber gelesen hat es Jedermann.
Ihrer verehrtesten Frau Gemahlin schicke ich heute mit den herzlichsten Grüssen nur das Versprechen, ihr nächstens brieflich für die grosse und unschätzbare Theilnahme zu danken, die sie mir in der Zeit der „Verfinsterung“ bewiesen hat; ebenfalls Fräulein Meysenbug, deren letzter Brief an Gersdorff leider nach dessen Abreise eintraf und ihm nachgeschickt werden musste.
Auf Wiedersehen, geliebtester Meister,
am Reformationstage.
Der Basler Genesende.
Erasmus (oder auch Anselmus,
geisterinselhaften Angedenkens)