1873, Briefe 287–338a
300. An Erwin Rohde in Kiel
Basel Mitte März. Nein! circa am 22 März. <1873>
Geliebter Freund, gestern gieng auch dies Semester, das achte meiner Erfahrung, zum Teufel oder wohin Du willst, und heute giebt es die Möglichkeit etwas aufzuathmen. Aber es will nichts Rechtes mit dem Aufathmen werden, wenn ich nicht erst mit meinen Freunden Friede schließe: denn diese werden mir zürnen, wie selten ich Briefe schreibe und wie undankbar ich mich gegen ihre briefschreibende Liebe benehme. Neulich bekam ich, in den Fastnachtstagen, bei tiefer Verstimmung, Deine Zeilen, geliebter Freund und verwünschte wieder den Dämon, der uns trennt oder, um ganz direkt zu reden, das dumme Benehmen der Freiburger, die Dich haben konnten, oder, noch direkter, die gemüthliche Perfidie meines „Freundes“ Ritschl, der sie daran verhindert hat. Nun sitzen wir auf unsern Stühlchen und kommen nicht zusammen! Jeden Brief möchte man fluchend beginnen und schließen, ja ich empfehle Dir, für unseren Gebrauch, das neue Wort „ich brieffluche, Du brieffluchst“ usw.
Übrigens bin ich, wie ich recht empfinde, viel besser daran als Du. Overbeck und Romundt, meine Tisch- Haus- und Gedankenfreunde, sind der trefflichste Umgang von der Welt: so daß ich, nach dieser Seite, das Ächzen und das Krächzen ganz abgethan habe. Romundt hat gestern sein erstes Semester, als Akademiker, geschlossen und hat einen großen kathedralen furor in sich von diesem ersten Versuche davon getragen. Er hat das Interesse der Studenten wirklich erregt und wird ganz gewiß in seinem Elemente sein, wenn er Academicus bleibt. Overbeck ist der ernsteste freimüthigste und persönlich liebenswürdig-einfachste Mensch und Forscher, den man sich zum Freunde wünschen kann. Dabei von jenem Radikalismus, ohne den ich nun schon gar nicht mehr mit Jemandem umgehen kann. In den Osterferien wird er ein Dokument dieses Radikalismus, ein öffentliches Sendschreiben an Paul de Lagarde machen. Was im Verlauf eines Jahres von uns zusammen an wichtigen und eingreifenden Dingen besprochen wird, ist der Masse nach sehr groß, und ich empfinde fortwährend dabei, was man entbehrt, wenn man Dich entbehrt. Unser Leben soll noch lang genug sich hinspinnen, um zu sorgen, daß vieles Gewollte zur That wird; aber für uns Beide ist es irgendwann einmal necessitas, zusammenzuleben, eben dieser „Thaten“ halber.
Ich hoffe bald so weit zu sein, Dir ein größeres Stück meines ganz langsam sich gebärenden Buches über griechische Philosophie zur vorläufigen Einsicht zu übersenden. Über den Titel steht nichts fest: wenn er aber lauten könnte „der Philosoph als Arzt der Cultur“, so siehst Du, daß ich mit einem schönen allgemeinen und nicht nur historischen Problem zu thun habe.
In Leipzig ist die Setzer-Angelegenheit noch nicht geordnet, daher große Verzögerung der zweiten Auflage. Wilamowitz’ zweites Stück habe ich gelesen, man schickte es mir in’s Haus, und ich fand es lustig genug und ganz und gar sich selbst abthuend. Gersdorff hat den Schäker in Rom gesehen, ich schicke Dir seinen Glücksbrief, damit Du mit mir an dem Glück des „taumelnden Cavaliers“ Deine Freude hast.
Jüngst war die Verheirathung von Frl. Olga Herzen mit Hr. Monod aus Paris. Ich erschien mit einer Hochzeitscomposition, vierhändig, folgenden Titels, der als Symbol einer guten Ehe gedeutet werden soll
Une Monodie à deux.
Frl. von Meysenbug ist tief unglücklich und sehr bedauernswürdig, sie bat mich, ich möge jetzt Ostern zu ihr nach Florenz kommen, um sie etwas zu trösten. Leider habe ich keine oder so gut wie keine Ferien, Dank dem ehrenwerthen Pädagogium.
R. W<agner> hat mir seine bisher noch ungedruckte Schrift von 1864 „Staat und Religion“ zugesandt, ursprünglich für den König von Baiern verfaßt: ich bin tief erbaut. So schreibt jetzt kein Mensch mehr über Religion und Staat, besonders nicht an Könige. — Beiläufig: welche Skandalgeschichte meint denn Wilamowitz mit der Bemerkung über den „philologischen Anzeiger“ c. S. 3 seiner PamphletAnmerkung. Der alte Leutsch ist doch nicht auch doppelzüngig?
Ich habe immer vergessen, den Aufsatz über das Certamen Dir zuzuschicken, der nun schon ganz abgelagert ist und doch nicht besser geworden. Nimm sie freundlich an, sagte das Kind zum Vater an seinem Geburtstage und ließ die Torte in den Dreck fallen.
Wenn wir nur noch eine andre Kunst gelernt hätten, theuerster Freund, um zusammen durch die Welt zu ziehen! Denn als Conjekturen-Dachshund hat man wahrlich kein ehrliches Gewerbe. Orgeldrehen ist besser. In diesem Semester hatte ich es zu zwei Zuhörern gebracht, der eine war Germanist, der andre Jurist, beiden trug ich Rhetorik vor! Es kommt mir so unglaublich verdreht vor, besonders wenn ich bedenke, daß der Eine ein persönlicher Enthusiast von mir ist und ebenso gut für mich Stiefeln wichsen als von mir Rhetorik hören würde! Nächstes Semester wird es etwas besser stehen: das Pädagogium wirft ein paar gute Philologen ab, mit denen doch zu verkehren ist.
Die Abundantia-Bilder sind heute hier angekommen, und ich gedenke unsrer vergnügten Leipziger-Naumburger Herbsttage! Das wollen wir doch bestens wiederholen, dieses Jahr, nicht wahr, bester Freund? Im Sommer besucht mich meine Schwester. Aber im Oktober ziehe ich Dir entgegen, nach dem guten Thüringen. Oder wollen wir in Dresden zusammenkommen? Nur ja nicht wieder in dem gottverdammten Leipzig!
Ich wünsche Dir reinen Himmel, heitres Gemüth und empfehle, als mein Stärkungsmittel, Dir den Marcus Antoninus; man wird so ruhig dabei.
Treu und Deiner stets gedenkend
Fridericus
Im Gersdorffschen Briefe kommt was Rührendes vor, Du wirst es finden, meine Vorträge betreffend. Das ist ein Freund.