1877, Briefe 585–674
671. An Paul Rée in Stibbe
Basel, 19. Nov. 1877im Jahre des Unheils, wo der Ur-sprung der moralischen Empfin-dungen entdeckt wurde.
Möge ich bald von Ihnen, mein Freund, hören, dass die bösen Krankheitsgeister ganz von Ihnen gewichen sind: dann bliebe mir für Ihr neues Lebensjahr Nichts zu wünschen übrig, als dass Sie bleiben, der Sie sind und dass Sie mir bleiben, der Sie im letzten Jahre waren. Sie haben mich wahrscheinlich verwöhnt; aber ich muss Ihnen doch sagen, dass ich in meinem Leben noch nicht so viel Annehmlichkeiten von der Freundschaft gehabt habe, wie durch Sie in diesem Jahre, gar nicht von dem zu reden, was ich von Ihnen gelernt habe. Wenn ich von Ihren Studien höre, so wässert mir immer der Mund nach Ihrem Umgange; wir sind geschaffen dafür, uns gut zu verständigen, ich glaube, wir finden uns immer auf dem halben Wege schon, wie gute Nachbarn, die immer zur gleichen Zeit den Einfall haben, sich zu besuchen und sich auf der Gränze ihrer Besitzungen einander entgegenkommen. Vielleicht steht es ein Wenig mehr in Ihrer Gewalt, als in meiner, die grosse räumliche Entfernung zwischen Stibbe und Basel zu überwinden: darf ich in dieser Beziehung für das neue Jahr hoffen? Ich selber bin gar elend und gebrechlich daran, als dass ich nicht um die beste Freude, die es giebt, bitten dürfte, selbst wenn die Bitte unbescheiden ist - ein gutes Gespräch unter uns über menschliche Dinge, ein persönliches Gespräch, nicht ein briefliches, zu dem ich immer untauglicher werde.
Im Herbste fehlten Sie uns recht; es gab da eine Zusammenkunft aller Sorrentiner, hinzugerechnet Olga, Monod und die zwei allerliebsten Kinderchen - und Basel gefiel nach Sorrent, selbst mit seiner Herbst-Natur. Sie werden lachen, wenn Sie hören, was die Güte Seydlitzens mir zu meinem Geburtstage präsentirte: ein türkisches Kaffeegeschirr, ganz so drollig und unpractisch wie das, welches wir im Hôtel Vittoria kennen lernten. Die Wanderung dieser Freunde hat ein Ende erreicht, sie haben sich in Salzburg niedergelassen und eingerichtet, auch schon mein Wort bekommen, dass ich sie im nächsten Jahr dort besuche. Vielleicht verbinde ich diess mit einer Reise nach Wien; dort ist jetzt ein wahres Nest von Leuten, welche den zweifelhaften Geschmack haben, meine Schriften zu schätzen (Sie wissen, ich selber bin ein wenig über diesen Standpunct hinaus), aber es scheinen mir tüchtige Menschen darunter zu sein, und einer davon ist ein Genie: derselbe Lipiner, von dem Sie mir zuerst schrieben. Auch ein ungarisches Edelfräulein, in Wien lebend, bedient sich jetzt meines Beirathes in religiösen Seelensorgen. Für solche Fälle muss ich mir ein Verzeichnis von Büchern anlegen, welche den ganzen Cursus der Freigeisterei enthalten: die „Mem<oiren> e<iner> Id<ealistin>“ sollten den Anfang, Sie selber den Schluss dabei machen - haben Sie gehört, was das Jenaer Litteraturblatt von dem jungen „Spinoza“ erzählt hat?
Leben Sie wohl, liebster Freund!
F. N.
Meine Schwester grüsst auf das Herzlichste; Ihrer Frau Mutter bitte ich gut empfohlen zu werden.