1877, Briefe 585–674
620. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg
<Ragaz, 2. Juni 1877>
Liebe gute Schwester, ein paar Zeilen für Dich allein.
In der That, ich glaube, es ist gut, wenn Du Ende des Monates nach Basel gehst, schon der Wohnung wegen. Vielleicht ist doch die Wohnung der Frl. Kästner das Rechte, (namentlich für den Fall der Verheirathung) Ich selber will am 15tn d. M. auf die Berge gehen, wahrscheinlich nach Rosenlauibad bei Meiringen. Ich suche Frl. v. M<eysenbug> ebenda hin zu locken; sie und die Monod’s kommen aber erst 15 Juli. Willst Du um dieselbe Zeit auch hinauf kommen? — Weisst Du, dass ich arg hin und her schwanke, meine Baseler Stellung ganz aufzugeben? Ich fürchte, es ist unverantwortlich, im Herbst wieder anzufangen. Mein Kopf ist viel leidender als wir dachten, das Übel verschleppt durch Jahre, jede geistige Anstrengung sofort schädlich. Bis zum 15 Juni muss ich mich entschieden haben (4 Monate vor dem Anfange des Winterhalbjahrs) Freund Rée hat mein Befinden immer besser dargestellt als es ist, unserer Mutter wegen. — Frl. v. M<eysenbug> ist dringend dieser Meinung, Overbeck auch. Trotzdem schwanke ich. Den Winter würde ich dann vielleicht im Engadin oder in Davos zubringen (das ja auch für Nervenleiden gut ist.) Diese allzufrühzeitige Baseler Professur entpuppt sich nachgerade als das Hauptunglück meines Lebens. — Du glaubst nicht, wie Kopf und Augen müde und arbeitsunfähig sind (ganz abgesehen von den schlimmen Tagen) — Bin ich wieder gesund, so auch wieder erwerbsfähig, an Stellung und Unterkommen wird es nicht fehlen, ich habe Freunde in aller Welt.
Die Verheirathung, sehr wünschenswerth zwar — ist doch die unwahrscheinlichste Sache, das weiss ich sehr deutlich!
Übrigens wollen wir zusehen. — Glaube nicht, dass mir in meiner jetzigen Einsamkeit etwas abgeht. Es ist mir sogar vorgekommen, als ob es mir gesünder sei, so ganz allein, ohne interessante Gespräche und gesellschaftliche Rücksichten, zu leben. Ich bin fast immer unterwegs und habe 20 Bäder genommen. Es geht mir besser als in Sorrent. Viele gute Briefe. Rée und Rohde wollen nächstens in Naumburg einen Besuch machen.
Weisst Du, dass ich gelegentlich erwartete, Du werdest mir etwas von Deiner bevorstehenden Verlobung melden? Nun, nichts für ungut.
Bitte schreib mir schnell ein paar Worte und grüsse unsere liebe Mutter herzlich.
Dein Bruder in Liebe.