1877, Briefe 585–674
615. An Malwida von Meysenbug in Sorrent
Lugano Sonntag morgen. <13. Mai 1877>
Verehrteste Freundin
nachdem ich durch Nachdenken herausgebracht habe, dass eine Karte, obschon leichter als ein Brief, doch nicht schneller geht als ein Brief, müssen Sie nun schon einen längeren Bericht über meine bisherigen Odysseischen Irrfahrten hinnehmen. Das menschliche Elend bei einer Meerfahrt ist schrecklich und doch eigentlich lächerlich, ungefähr so wie mir mitunter mein Kopfschmerz vorkommt, bei dem man sich in ganz blühenden Leibesumständen befinden kann — kurz, ich bin heute wieder in der Stimmung des „heitern Krüppelthums“, während ich auf dem Schiffe nur die schwärzesten Gedanken hatte und in Bezug auf Selbstmord allein darüber im Zweifel blieb, wo das Meer am tiefsten sei, damit man nicht gleich wieder herausgefischt werde und seinen Errettern noch dazu eine schreckliche Masse Gold als Sold der Dankbarkeit zu zahlen habe. Übrigens kannte ich den schlimmsten Zustand der Seekrankheit ganz genau aus der Zeit her, wo ein heftiges Magenleiden mich mit dem Kopfschmerz im Bruderbunde quälte: es war „Erinnerung halb verklungener Zeiten“. Nur kam die Unbequemlichkeit hinzu, in jeder Minute dreimal — bis 8 mal die Lage zu wechseln und zwar bei Tag und Nacht: sodann in nächster Nähe Gerüche und Gespräche einer schmausenden Tischgesellschaft zu haben, was über alle Maassen ekelerregend ist. In Livorno’s Hafen war es Nacht, es regnete, trotzdem wollte ich hinaus, aber kaltblütige Verheissungen des Capitäns hielten mich zurück. Alles im Schiffe rollte mit grossem Lärme hin und her, die Töpfe sprangen und bekamen Leben, die Kinder schrieen, der Sturm heulte; ewige Schlaflosigkeit war mein Loos, würde der Dichter sagen. Die Ausschiffung hatte neue Leiden; ganz voll von meinem grässlichen Kopfschmerz, hatte ich doch Stundenlang die schärfste Brille auf der Nase und misstraute jedem. Die Dogana gieng leidlich vorbei, doch vergass ich die Hauptsache, nämlich mein Gepäck für die Eisenbahn einschreiben zu lassen. Nun ging eine Fahrt nach dem fabelhaften Hôtel national los, mit zwei Spitzbuben auf dem Kutscherbock, welche mit aller Gewalt mich in eine elende Trattoria absetzen wollten; fortwährend war mein Gepäck in andern Händen, immer keuchte ein Mann mit meinem Koffer vor mir her. Ich wurde ein paar Mal wüthend und schüchterte den Kutscher ein, der andere Kerl riss aus. Wissen Sie, wie ich in’s Hôtel de Londres gekommen bin? Ich weiss es nicht, kurz es war gut, nur der Eintritt war greulich, weil ein ganzes Gefolge von Strolchen bezahlt werden wollte. Dort legte ich mich gleich zu Bett und sehr leidend! Am Freitag, bei trübem regnerischen Wetter, ermannte ich mich um Mittag und ging in die Gallerie des Palazzo Brignole; und erstaunlich, der Anblick dieser Familienporträts war es, welcher mich ganz heraushob und begeisterte; ein Brignole zu Pferd, und in’s Auge dieses gewaltigen Streitrosses der ganze Stolz dieser Familie gelegt — das war etwas für mein deprimirtes Menschenthum! Ich achte persönlich van Dy<c>k und Rubens höher als alle Maler der Welt. Die andern Bilder liessen mich kalt, ausgenommen eine sterbende Cleopatra von Guercino.
So kam ich wieder in’s Leben zurück, und sass den übrigen Tag still und muthig in meinem Hôtel. Am nächsten Tage gab es eine andre Erheiterung. Die ganze Reise von Genua nach Mailand machte ich mit einer sehr angenehmen jungen ballerina eines Mailänder Theaters zusammen; Camilla era molto simpathica, o Sie hätten mein Italiänisch hören sollen. Wäre ich ein Pascha gewesen, so hätte ich sie mit nach Pfäffers genommen, wo sie mir, bei der Versagung geistiger Beschäftigungen, etwas hätte vortanzen können. Ich bin immer noch von Zeit zu Zeit ein bischen ärgerlich über mich, dass ich ihretwegen nicht wenigstens ein paar Tage in Mailand geblieben bin. Nun näherte ich mich der Schweiz und fuhr die erste Strecke auf der Gotthardbahn, welche fertig geworden ist, von Como nach Lugano. Wie bin ich doch nach Lugano gekommen? Ich wollte eigentlich nicht recht, aber ich bin da. Als ich die Schweizer Grenze passirte, unter heftigem Regen, gab es einen einmaligen starken Blitz und Donnerschlag. Ich nahm es als gutes Omen hin, auch will ich nicht verschweigen, dass je mehr ich mich den Bergen näherte, mein Befinden immer besser wurde. In Chiasso entfernte sich mein Gepäck auf zwei verschiedenen Zügen von einander, es war eine heillose Verwirrung, dazu noch Dogana. Selbst die beiden Schirme folgten entgegengesetzten Trieben. Da half ein guter Packträger, er sprach das erste Schweizerdeutsch; denken Sie dass ich es mit einer gewissen Rührung hörte, ich merkte auf einmal, dass ich viel lieber unter Deutschschweizern lebe als unter Deutschen. Der Mann sorgte so gut für mich, so väterlich lief er hin und her — alle Väter sind etwas Ungeschicktes — endlich war alles wieder bei einander und ich fuhr nach Lugano weiter. Der Wagen des Hôtel du Parc erwartete mich, und hier entstand in mir ein wahres Jauchzen, so gut ist alles, ich wollte sagen, es ist das beste Hôtel der Welt. Ich habe mich etwas mit mecklenburgischen Landadel eingelassen, das ist so eine Art von Deutschen, die mir recht ist; am Abend sah ich einem improvi<sir>ten Balle der harmlosesten Art zu; lauter Engländer, alles war so drollig. Hinterdrein schlief ich, zum ersten Male gut und tief; und heute morgen sehe ich alle meine geliebten Berge vor mir, lauter Berge der Erinnerung. Seit acht Tagen hat es hier geregnet. Wie es mit den Alpenpässen steht, will ich heute auf der Post erfahren.
Mir kommt auf ein Mal der Gedanke, dass ich seit Jahren keinen so langen Brief geschrieben, ebenso dass Sie ihn gar nicht lesen werden.
Sehen Sie also nur in der Thatsache dieses Briefes ein Zeichen meines Besserbefindens. Wenn Sie nur den Schluss des Briefes entziffern können!
Ich denke mit herzlicher Liebe an Sie, alle Stunden mehrere Male; es ist mir ein gutes Stück mütterlichen Wesens geschenkt worden, ich werde es nie vergessen.
Trina der Guten meine besten Grüsse.
Ich vertraue mehr als je auf Pfäffers und Hochgebirge.
Leben Sie wohl! Bleiben Sie mir, was Sie mir waren, ich komme mir viel geschützter und geborgener vor; denn mitunter überkommt mich das Gefühl der Einöde, dass ich schreien möchte.
Ihr dankend ergebener
Friedrich Nietzsche.
Dritter Bericht des
Odysseus.
Wie schön hatten Seydlitzens mich auf’s Schiff gebracht! Ich kam mir wie ein ideales Gepäckstück aus einer besseren Welt vor.