1877, Briefe 585–674
644. An Malwida von Meysenbug in Faulensee
<Rosenlauibad, den 4. August 1877>(Sonnabend)
Liebste mutter-gleiche Freundin,
es geht nicht! Ich habe mich bei meiner Rückkehr nach R<osenlauibad> sofort für den ganzen August gebunden, in der Annahme, Sie seien wirklich, wie es Ihr Seelisberger Brief verhiess, wegen des elenden Wetters sofort wieder über die Alpen zurück gegangen. So habe ich denn hier einen Ausnahme-Pensionspreis, viel geringer als alle Andern (denn ich brauche viel weniger, esse immer für mich, nicht table d’hôte: denken Sie, ich habe in meinem Leben nie so opulent gelebt wie in Sorrent) Dann bekommt es mir hier immer besser; wo kann ich aber auch, wie hier, vor dem Frühstück zwei Stunden und vor dem Abendessen zwei Stunden wie hier im Schatten der Berge spazieren gehen! — Am ersten September beziehe ich meine neue Wohnung in Basel. Ich bin leider genöthigt, jetzt jeden Franken anzusehen: was soll im Winter sonst werden, mit meiner guten Seh wester zusammen!
Ich entbehre Sie und hätte Ihnen so manches zu sagen.
Dr. Eiser machte mir die Freude, 4 Tage mit seiner Frau mich hier zu besuchen; wir sind uns sehr nahe gekommen und überdiess: ich habe den besorgtesten Arzt für mich gewonnen, den ich mir nur wünschen kann. Ich stehe jetzt also unter seinem Regime: ziemlich gute Hoffnung! Er ist erfahren, Sohn eines Arztes, selber in den 40 Jahren, ich gebe viel auf die geborenen Ärzte.
Dann habe ich mit einem Engländer Ms G Croom Robertson und dessen Familie Neigung um Neigung eingetauscht, es that mir weh, ihn heute scheiden zu sehen. Er ist Professor in University College London und Herausgeber der besten philosoph<ischen> Zeitschrift (nicht nur für England, sondern überhaupt; höchstens Th. Ribot’s Revue philosophique steht ihr gleich) Ihm ist gelungen, was Monod in Betreff aller französ<ischen> Autoritäten der Historie mit seiner Revue gelungen ist: an seiner Zeitschrift „Mind“ arbeiten alle philos<ophischen> Grössen (Spencer Tylor Maine Darwin usw. usw.) — Er war sehr eingenommen für Rée’s Buch, will darauf sehr aufmerksam machen und versprach, wenn Rée oder ich nach London käme, eine persönliche Beziehung zu allen den genannten Autoritäten zu vermitteln. Er sprach sehr gut über Wagner und Londoner Concerte. Beim Abschied habe ich seiner Frau noch Ihre „Memoiren“ in einer Weise empfohlen und an’s Herz gelegt, dass — usw. Dasselbe habe ich neulich mit zwei polnischen Damen gethan, mit denen ich mich innerhalb zweier Wochen förmlich befreundet habe, Mutter und Tochter de Hattovski, der Vater ist russischer General in Tiflis. — In summa: die Menschen sind recht gut mit mir gewesen.
Prof. Heinze (ord. Prof. der Philosophie) in Leipzig bedauert sehr dass Rée nicht dort sich habilitire: er verlange längst nach einer Vertretung dieser Richtung. (Übrigens sei er selber noch etwas radicaler, er sehe nichts als Egoismus usw) — Deussen’s Elemente der Metaphysik“ ein Leitfaden für Schopenhauer, ist erschienen. Viel Indisches darin.
Über Brenner schreibt Köselitz; ich lege den Brief bei, bitte ihn mir gelegentlich wieder aus.
So! Die Augen thun wieder weh. Ihrer Gesundheit gute Kräftigung von Herzen ersehnend und mit herzlichen Empfehlungen an die Ihrigen
Ihr treuer
Friedr. Nietzsche