1877, Briefe 585–674
661. An Marie Baumgartner in Lörrach
<Rosenlauibad> 30 August. <1877>
Hier, meine liebe und verehrte Frau, ein Briefchen als Vorreiter meiner Ankunft in Basel — nicht als Antwort auf Ihren guten wie immer seelenreichen Brief. Wenn es mir mannichmal graute, an die Dämmerung meiner Baseler Existenz in diesem kommenden Winter zu denken, so fiel mir auch immer Ihre trauliche Stube und Ihr herzliches Empfinden ein. „Entbehren sollst du, musst entbehren“ heisst es ja überall, in jedem Menschenleben: da müssen die guten Freunde schön an einander halten, damit es doch ein warmes Plätzchen in der Welt giebt, wohin die Oede des Entbehrens nicht hinein darf.
Mir ist jetzt immer deutlicher geworden, dass es eigentlich der übergrosse Zwang war, den ich mir selbst in Basel anthun musste, an dem ich zuletzt krank geworden bin; die Widerstandskraft war endlich gebrochen. Ich weiss es, fühle es, dass es eine höhere Bestimmung für mich giebt als sie sich in meiner Baseler so achtbaren Stellung ausspricht; auch bin ich mehr als ein Philologe, so sehr ich für meine höhere Aufgabe, auch die Philologie selbst gebrauchen kann. „Ich lechze nach mir“ das war eigentlich das fortwährende Thema meiner letzten 10 Jahre. Jetzt, wo durch ein Jahr Zusammensein mit mir selbst alles ganz deutlich und übersichtlich geworden ist (— ich kann nicht aussprechen, wie reich, wie schaffensfreudig, trotz allen Schmerzen, ich mich fühle, sobald man mich allein lässt —) jetzt sage ich Ihnen auch mit Bewusstsein, dass ich nicht nach Basel zurückkehre, um dort zu bleiben. Wie es sich gestalten wird, ich weiss es nicht; aber meine Freiheit (— ach, die äusseren Bedingungen dazu sollen so bescheiden wie möglich sein —) diese Freiheit werde ich mir erobern.
Nun helfen und sinnen Sie mit, aus gutem freundschaftlichen Herzen, wie ich es zunächst wieder ertrage.
Ihr lieber Sohn geht nach Jena? Das hat mich sehr erfreut, ich wüsste ihm auch nichts besseres zu rathen. Rohde ist der begabteste und tüchtigste der jungen Philologen. — Aber ich sehe ihn noch im September? so schreibt mir meine Schwester, die arme, die jetzt wieder das Haus in Stand zu bringen hat.
Also auf Wiedersehen in Kürze.
Treulich der Ihre
Dr Friedr Nietzsche