1877, Briefe 585–674
656. An Erwin Rohde
<Rosenlauibad, 28. August 1877>
Lieber lieber Freund,
wie soll ich es nur nennen — immer wenn ich an Dich denke, überkommt mich eine Rührung; und als mir neulich jemand schrieb „Rohdens junge Frau ein höchst liebliches Wesen, dem die edle Seele aus allen Zügen hervorleuchtet“ da habe ich sogar Thränen vergossen, ich weiss gar keinen haltbaren Grund dafür anzugeben. Wir wollen einmal die Psychologen fragen; die bringen am Ende heraus, es sei der Neid, dass ich Dir Dein Glück nicht gönne oder der Ärger darüber, dass mir jemand meinen Freund entführt habe und nun Gott weiss wo in der Welt, am Rhein oder in Paris, verborgen halte und ihn gar nicht wieder herausgeben wolle! Als ich neulich meinen Hymnus an die Einsamkeit im Geiste mir vorsang, war es mir plötzlich als ob Du meine Musik gar nicht möchtest und durchaus ein Lied auf die Zweisamkeit verlangtest: am Abend darauf spielte ich auch eins, so gut ich es verstand, und es gelang mir: so dass alle Englein mit Vergnügen hätten zuhören können, die menschlichen Englein zumal. Aber es war in einer finstern Stube, und niemand hörte es: so muss ich Glück und Thränen und Alles in mich verschlucken.
Soll ich Dir von mir erzählen? Wie ich immer, schon 2 Stunden bevor die Sonne in die Berge kommt, unterwegs bin, und dann namentlich in den langen Schatten des Nachmittags und Abends? Wie ich mir vielerlei ausgedacht habe und mir so reich vorkomme, nachdem dies Jahr mir endlich einmal erlaubt hat, die alte Moosschicht täglichen Lehr- und Denkzwanges einmal abzuheben? So wie ich hier lebe, ertrage ich es selbst mit allen Schmerzen, die mir freilich auch auf die Höhe gefolgt sind — aber dazwischen giebt es so viele glückliche Erhebungen des Gedankens und der Empfindung. Ganz neuerdings erst erlebte ich durch den „entfesselten Prometheus“ einen wahren Weihetag: wenn der Dichter nicht ein veritables „Genie“ ist, so weiss ich nicht mehr, was eins ist: alles ist wunderbar, und mir ist als ob ich meinem erhöhten und verhimmlischten Selbst darin begegnete. Ich beuge mich tief vor einem, der so etwas in sich erleben und herausstellen kann.
In drei Tagen gehe ich nach Basel zurück. Meine Schwester ist dort bereits mit Einrichten tüchtig beschäftigt. Der treue Musiker Köselitz zieht in meine Behausung und will die Dienste eines hülfreichen Schreiber-Freundes übernehmen. Mir graut etwas vor diesem Winter; es muss anders werden. Jemand, der täglich nur wenig Zeit für seine Hauptsachen und fast alle Zeit und Kraft für Pflichten auszugeben hat, die andre so gut besorgen können wie er — ein solcher ist nicht harmonisch, mit sich im Zwiespalt — er wird endlich krank. Wenn ich Wirkung auf die Jugend habe, so verdanke ich sie meinen Schriften, und diese meinen abgestohlenen Stunden, ja den durch Krankheit eroberten Interimszeiten zwischen Beruf und Beruf. — Nun, es wird anders: si male nunc, non olim sic erit. Inzwischen möge das Glück meiner Freunde wachsen und blühen, es thut mir immer herzlich wohl an Dich zu denken, mein geliebter Freund (ich sehe dich eben an einem rosenumgränzten See und einen schönen weissen Schwan auf Dich zuschwimmen)
In brüderlicher Liebe Dein F.