1877, Briefe 585–674
592. An Marie Baumgartner in Lörrach
<Sorrent, 2. Februar 1877>
Verehrteste Frau
was für eine Freude haben Sie mir, und uns Allen gemacht! Wir können uns gar nicht darüber beruhigen, wie gut die Übersetzung gelungen ist; Fräulein von Meysenbug meinte immer wieder, es klinge als ob man einen der besten französischen Autoren höre, und ich selber bin fast überzeugt, dass die Übersetzung besser verstanden wird als das Original; ja wir Alle meinen, vielleicht sei Schmeitzner sehr klug gewesen: der Dampfer der Übersetzung nehme das etwas schwerfällige Lastschiff des Originals in’s Schlepptau. Es ist eine wirklich artistische Leistung, so dass ich mich über mein Glück, einer solchen Übersetzerin und Sprachbildnerin zu begegnen, nicht genug wundern kann; die Vereinigung von grösster Deutlichkeit mit Schönheit und Zartgefühl des Ausdrucks ist gewiss etwas Seltenes. Es war so leicht meine Gedanken in einer fremden Sprache noch zu verdunkeln; in der That, ich fürchtete immer etwas die pathetische Rhetorik des modernen Französisch. Aber Ihnen ist es gelungen, mich zu erhellen. das macht mich sehr froh. Ausserordentlich schön ist z.B. der Schlusssatz von p. 19, dann auf p. 21 „de personnifier, de vivifier“ Dann p. 66. Das ganze VII Capitel, für das ich Grund hatte zu fürchten, sehr schön! Viele glückliche Einfälle und Erfindungen! Ich hebe noch p. 123 hervor; schon weiss ich dass ich täglich noch neue Überraschungen haben werde; bis jetzt konnten wir nur einen Theil zusammen lesen, und ich habe für mich das Ganze überschaut.
Nehmen Sie heute mit dieser Danksagung, welche ich Ihnen aus vollem Herzen ausspreche, fürlieb.
Ihrem Herrn Gemahl und meinem lieben Adolf die besten Grüsse.
Treu ergeben
Ihr
Friedrich Nietzsche.
Ein Wort von meinem Befinden: denken Sie dass meine Augen in fast plötzlicher Weise so abgenommen haben, dass ich fast gar nicht lesen kann! Höchstens noch, wenn die Buchstaben so gross sind wie in Ihrem merkwürdig schön ausgestatteten Buche.