1877, Briefe 585–674
650. An Reinbart von Seydlitz in Grindelwald
Rosenlauibad, Mittwoch <22. August 1877>
Mein lieber Freund,
Sie in Grindelwald, ich in Rosenlaui — nichts als eines Esels Rücken liegt zwischen uns (Sie wissen doch, daß man die große Scheidegg so nennt?)
Nun will ich Ihnen zum zweiten Male zeigen, inwiefern ein Eselsrücken zwischen uns liegt. Nichts besser ausgedacht als Ihr Plan des allgemeinen Rendezvous — aber ich muß fehlen (jedes Wort, aber aus verschiednen Gründen zu unterstreichen, so daß es eigentlich 4 Sätze, mit verändertem Sinne, sind). Nach der Verständigung mit meiner Schwester kann ich erst am 1. Sept. in meine Wohnung. So lange bleibe ich hier, weil ich hier am billigsten lebe, Sie wissen, inwiefern. Am Abreisetag will ich morgens um 3 Uhr aufbrechen, in Meiringen die Post nach Brienz erreichen, und dann, mit Hülfe 2. Classe auf Dampfschiffen und 3. Classe auf Eisenbahnen, direkt nach Basel fahren. Schämen Sie sich an meiner Stelle, ich habe darin alle Scham verloren, es ist zum Erbarmen. — Trotzdem glaube ich, daß ich nichts mehr, nach dieser Mittheilung, zu sagen habe, um meine Abwesenheit beim Rendezvous zu entschuldigen. — Frl. von M<eysenbug> kommt später nach Basel, ebenso Monod’s — und daß Sie Basel kreuzen müssen, möchte ich beschwören, ohne auch zu wissen, was inzwischen über Ihren Winteraufenthalt entschieden worden ist. So zweifle ich ebenfalls nicht daran, daß es mir erlaubt sein wird, noch vor Monatsfrist, Ihre verehrte Frau Mutter nochmals zu begrüßen und mich bei der Grindelwalder Briefschreiberin und Rosenlaui-Herumkletterin schönstens persönlich zu bedanken. Kurz wenn ich’s recht überlege: alle Wege führen (zwar nicht nach Rom! oder doch?) aber nach Basel. —
Eine Karte, nach dem Lauterbrunner Steinbock gesandt, ist nicht in Ihre Hände gekommen.
Das Hôtel ist immer noch, zu meinem Erstaunen, fast voll. Doch würde es zu keinen solchen „Miserabilitäten“ wieder kommen, wie bei Ihrem damaligen Erscheinen. — Gestern Abend kam Ihre Karte, diese Nacht großes Gewitter, heute früh (in der Voraussetzung, daß Sie alle noch schlafen) schreibe ich und war schon am Gletscher.
Ihre Novelle giebt mir viel zu denken (über Sie und über die Novelle) und wenn wir uns wiedersehen, viel zu sprechen. Spinnen Sie, spinnen Sie — ich fürchte immer, das Netz risse zu schnell. Und verknoten Sie am Ende den Amerikaner recht fest (mit Matrosenknoten) in’s Netz, und wenn er dran ersticken sollte!
Mich herzlich grüßend vor Ihnen Allen verneigend, Manches bedauernd, Vieles hoffend
bin ich
Freund F. Nietzsche.