1877, Briefe 585–674
630. An Malwida von Meysenbug in Seelisberg
(Sonntag) <Rosenlauibad, 1. Juli 1877>
Hochverehrte Freundin,
es hat mich betrübt, dass mein ausführlicher Reiseplan in Betreff des Splügen zu spät nach Florenz gelangt ist, wahrscheinlich nur um Einen Tag zu spät. Ich glaubte nicht, dass Sie so schnell von dort aufbrechen würden. (Diese Dinte ist schrecklich, und ich habe sie mir eigens kommen lassen! Aber man hat sie gefälscht, alle Lebensmittel sind in der ganzen Welt unecht und Dinte ist doch für uns ein Lebensmittel!)
So! jetzt geht es besser. —
Ich bedaure sehr, dass das Reisen Ihnen so schlecht bekommen ist; in der That, das muss aufhören und die Vielen, welche Sie lieben, müssen sich ein bischen bemühen und über die Alpen steigen. Aeschi, glaube ich, wird Ihnen entsprechen, es ist dem Clima nach ähnlich wie Sorrent, natürlich etwas alpiner: aber eine ähnliche Mischung von guter Berg- Wald- und Seeluft. Für meine Bedürfnisse ist es, so lange die ganz heisse Zeit währt, freilich viel zu niedrig, ich kann also erst später hinkommen. Das Hochgebirge hat immer einen wohlthätigen Einfluss auf mich gehabt. Zwar liege ich hier auch krank zu Bett wie in Sorrent und schleppe mich Tagelang unter Schmerzen herum, aber je dünner die Luft, umso leichter trage ich es. Jetzt habe ich eine Kur mit St. Moritzer Wasser begonnen, die mich mehrere Wochen beschäftigen wird. Es wurde mir sehr empfohlen, nach Ragatzer Kur in die Höhe zu gehn und dies Wasser zu trinken; als Mittel gegen eingewurzelte Neurosen gerade in dieser Combination mit Ragatz. Bis zum Herbst habe ich nun noch die schöne Aufgabe, mir ein Weib zu gewinnen, und wenn ich sie von der Gasse nehmen müsste: die Götter mögen mir Munterkeit zu dieser Aufgabe geben! Ich hatte wieder ein ganzes Jahr zum Überlegen und habe es unbenutzt verstreichen lassen; und doch weiss ich längst, dass ohne diess auch nicht einmal auf eine Milderung meiner Leiden zu rechnen ist. Im October bin ich entschlossen wieder nach Basel zu gehn und meine alte Thätigkeit aufzunehmen. Ich halte es nicht aus ohne das Gefühl nützlich zu sein; und die Baseler sind die einzigen Menschen, welche es mich merken lassen, dass ich es bin. Meine sehr problematische Nachdenkerei und Schriftstellerei hat mich bis jetzt immer krank gemacht; so lange ich wirklich Gelehrter war, war ich auch gesund; aber da kam die nervenzerrüttende Musik und die metaphysische Philosophie und die Sorge um tausend Dinge, die mich nichts angehen. Also ich will wieder Lehrer sein: halte ich’s nicht aus, so will ich im Handwerk zu Grunde gehn. Ich erzählte Ihnen, wie Plato diese Dinge auffasst. — Meine besten Wünsche und Grüsse für die unermüdlichen Bayreuther. (ich bewundere alle Tage dreimal ihre Tapferkeit) Bitte beruhigen Sie mich über das Londoner Gesammtergebniss, man erzählte mir etwas sehr Schlimmes. Wie gern unterhielte ich mich mit Frau W<agner>, es ist immer einer meiner grössten Genüsse, und seit Jahren bin ich ganz darum gekommen! —
Ihre mütterliche Güte giebt Ihnen das traurige Vorrecht, auch Jammer-Briefe zu bekommen!
Overbeck hat keineswegs mir zugerathen, nach B<asel> zu gehen. Wohl aber meine Schwester, die mehr Vernunft hat als ich.
Es müssen mehrere Karten (von mir an Sie) nicht angekommen sein.
Leben Sie wohl, recht wohl! Ihnen herzlich ergeben
Friedrich Nietzsche.
4000 Fuss aber wie geschützt, mild, gut für die Augen!
(6 frs. die Pension, sehr gut.)