1877, Briefe 585–674
636. An Reinhart von Seydlitz in Kreuznach
<Rosenlauibad,> 24 Juli. 1877.
Lieber lieber Freund,
gestern Abend kam ich nach Rosenlaui zurück, fand Ihren Brief vor und war ganz von Herzen befriedigt. Sie waren mir auf einmal verloren gegangen — wie oft verlangte es mich, Ihnen zu schreiben, für Ernst und Scherz Ihrer Briefe, für Sie selbst zu danken! Aber auch unsre Freundin Malvida wusste Ihre Adresse nicht; und so ging mirs wie dem Knaben, dem der Bindfaden gerissen ist so dass er dem schönen Drachen in den Lüften eben nur noch nachsehen kann, und endlich auch dies nicht mehr. (Das Gleichniss ist nicht schön: denn dass Sie nicht „von Papier“ sind, weiss Gott und Welt; auch sind Sie kein Drache. Aber mit dem „Knaben“ hat es seine Richtigkeit, und ich bin der Meinung Homer’s, dass es schon recht ist, wenn ein Gleichniss auf einem Beine stehen kann)
Also: ich sitze hier und warte auf Sie. Es geht mir gut? schreiben Sie — die Wahrheit ist, es ging mir einen Tag einmal gut, an diesem schrieb ich fünf Briefe und meldete es: so dass jetzt alle meine Freunde sich freuen, wie gut es mir gehe. Am Tag darauf lag ich zu Bette, und die letzten vierzehn Tage waren erbärmlich. — Reisen bekommt mir schlecht, ich will jetzt fünf Wochen noch hier bleiben und mich um Rosenlaui herumdrehen als ob ich mit einem halben-Stunden-Strick hier angebunden sei. —
Gestern ehrte ich das Andenken Ihrer lieben Frau durch eine gewisse festliche Art, mit jener Seife umzugehen, welche ich ihrer Güte verdanke. Ich bin immer mit ihr gereist, sie hat alles gesehen, was ich gesehn habe. (Freilich, ich sehe unterwegs nicht viel, ungefähr aber doch soviel als ein Stück Seife) — Wir wollen guter Dinge alle zusammen sein, nicht wahr? Ich darf ungestraft pränumerando ein wenig Unsinn reden?
Schumann’s Kopf erinnerte mich an die Erzählung eines seiner Leipziger Freunde, er habe schweigend ganze Abende dagesessen und schweres Bier getrunken. —
Nun Getreuer Lieber, auf
Wiedersehen!
Es ist sehr angenehm hier, das weiss eine englische Familie, die Jahr für Jahr herkommt (der General Staatsanwalt von England, ein Mann mit 20 000 Pf. Einkommen, er hat den berühmtesten engl. Landschaftsmaler mit sich hier)
Ihnen Beiden herzlich zugethan
Friedrich Nietzsche.