1860, Briefe 124–201
164. An Rosalie Nietzsche in Naumburg
<Pforta, Anfang August 1860>
Liebe Tante!
Ich bin heute genöthigt zu schreiben; denn es fehlt mir noch mein Bettüberzug und den müsste ich schon haben. Ich wollte dich recht sehr bitten, liebe Tante, mir denselben sobald es dir nur möglich ist, zu schiken. Er muß in der Kommode in der blauen Stube sein; vielleicht weiß es auch der Onkel Oskar. —
Ich bin ganz glüklich in Pforta angekommen, wünsche aber sehr, daß die Mamma da ist, da mir noch eine Menge Kleinigkeiten fehlen. In Pforta sind große Aenderungen vorgegangen. Unsre Waschstube ist fertig; es geht sehr gut. Wir stehen deßhalb 5 Minuten vor 5 Uhr auf, waschen und ziehen uns bis ¼ 6 an, haben dann noch Arbeitsstunde bis ¾ 6 und essen dann Frühstück. Um 6 ist Gebet und gleich darauf fangen die Lektionen an.
Nachmittags haben wir noch von 4½ 5 eine freie halbe Stunde bekommen. Sodann dürfen wir Sonnabend, Mittwoch und Studientag von nach Tische bis ½ 2 Uhr ins Freie spazieren gehn außer dem gewöhnlichen Sonntagsspaziergang. Die Primaner dürfen alle Tage bis ¾2 gehen, die klein eximirten Primaner haben Sonntag 3 stündigen Spaziergang, die großeximirten von nach Tische bis um 7 Uhr. —
Das ist doch eine ganz prächtige Neuerung. Nun liebe Tante, mündlich wollen wir noch mehr drüber sprechen. Wenn die Mamma noch nicht da wäre, würde ich sehr gern Dein gütiges Anerbieten annehmen, nächstens Sonntag zu dir zu kommen, natürlich wenn Dir’s völlig passt.
Dein dich innig liebender
FWNietzsche