1878, Briefe 675–789a
762. An Paul Rée in Stibbe
Basel den 20 Oct. 1878.
Ach, liebster guter Freund, mit dem schmerzlichsten Bedauern lese ich, eben von der Reise heimgekehrt, die Nachricht Ihres Krankseins. Was soll aus uns werden, wenn wir in unsern „besten Jahren“ so elend dahinwelken (denn auch ich habe elende Monate hinter mir und beginne den Winter mit trüberen Aussichten als je! Will uns das Schicksal ein schönes Greisenalter aufsparen, weil vielleicht unsre Denkweise diesem am natürlichsten, wie eine gesunde Haut, anliegt? Aber müßten wir da nicht zu lange warten! Die Gefahr wäre, daß wir die Geduld verlören. — Mir fällt gar nichts tröstliches ein, denn daß Sie sich durchschlagen und mit Ihrer Kraft auch ein Stückchen von meinen Bestrebungen, meinen Hoffnungen verwirklichen würden, das war bis jetzt bei mir Glaubens-Artikel. Muß ich jetzt nicht fürchten, daß auch Sie wieder nach einem Andern ausschauen lernen, der Ihnen die Aufgabe abnimmt? Ach, wie elend ist es, nach Erben zu suchen, nicht für unser Thun, sondern für unser Thunwollen. Sie hören, ich rede in ganz jämmerlichem Egoismus und verwünsche Ihr Kranksein, weil mein bestes Hoffen und Wünschen zugleich dabei krank wird.
Sie sind besser als ich, das habe ich immer geglaubt; und daß Sie sich vom Krankenbette aus meines Geburtstages erinnerten und mir schrieben, werde ich als Psychologe ebenso wenig wie als Freund vergessen.
Von ganzem Herzen der Ihrige
F Nietzsche