1878, Briefe 675–789a
723. An Heinrich Köselitz in Venedig
<Basel, 31. Mai 1878>
Lieber Freund, am Tage Voltaire’s kam zweierlei zu mir; rührend und ergreifend war beides: Ihr Brief und dann eine anonyme Sendung aus Paris, die Büste Voltaire’s, mit einer Karte, auf der sich nur die Worte befanden „l’âme de Voltaire fait ses compliments à Frédéric Nietzsche.“
Nehme ich zu Ihnen die Beiden noch hinzu, welche sich wirklich über mein Buch erfreut gezeigt haben, Rée und Burckhardt (der es wiederholt „das souveräne Buch“ genannt hat), so habe ich einen Wink darüber, wie die Menschen beschaffen sein müßten, wenn mein Buch eine schnelle Wirkung thun sollte. Aber das wird und kann es nicht, so leid es mir des trefflichen Schmeitzner wegen thut. Von Bayreuth aus ist es in eine Art von Bann gethan: und zwar scheint die große Excommunikation über seinen Autor zugleich verhängt. Nur versucht man, meine Freunde doch noch festzuhalten, während man mich verliert — und so höre ich denn von Manchem, was hinter meinem Rücken geschieht und geplant wird. — Wagner hat eine große Gelegenheit, Größe des Charakters zu zeigen, unbenutzt gelassen. Mich darf es nicht beirren, weder in meiner Meinung über ihn, noch über mich.
Ja, wenn man soviel eindringenden Ernstes und auch soviel Zeit einem solchen Erzeugniß weihen wollte wie Ihre Güte gethan, so käme wohl etwas dabei heraus: nämlich Neues an Gedanken und Gefühlen und eine kräftigere Stimmung, wie als ob man in leichter gewordene Luft der Höhe gerathen sei. Rée sagt, er habe eigentlich nur Einmal durch ein Buch eine gleiche Stimmung produktiven Genießens erfahren, durch Eckermann’s Gespräche; ganze Hefte von Reflexionen seien schon entstanden.
Das eben ist das Beste, was ich erhoffte — die Erregung der Produktivität Anderer und die „Vermehrung der Unabhängigkeit in der Welt“ (wie J.Burckhardt sagte).
Meine Gesundheit bessert sich, ich bin unermüdlich im Spazierengehen und einsamen Für-mich-hin-Denken. Ich freue mich des Frühlings und bin ruhig, wie einer, der nicht mehr so leicht aus dem Geleise zu bringen ist. — Könnte ich doch bis an’s Ende so weiter leben! —
Dies alles handelt von mir, weil Sie gern etwas von mir hören wollen. Vieles möchte ich verschweigen, den Tod und die letzten gequälten Zeiten Brenner’s, die seltsame Entfremdung vieler Bekannter und Freunde. —
Bleiben Sie mir gut, in aller Freiheit. — Wie verstehe ich Ihr „unstät und flüchtig“, wie ähnlich sind Sie mir darin! — Nun wachsen Sie fort und fort! In dieser Hoffnung bin ich immerdar
Ihr Freund F. N.