1878, Briefe 675–789a
721. An Reinhart von Seydlitz in Salzburg
<Basel,> 13. Mai 1878.
Lieber Freund,
seit drei Wochen bin ich wieder in voller akademischer Sommer-Thätigkeit — sehr zufrieden darüber! Wenig Zeit übrig! — Heute nur einen Wink, den ein Freund verstehen wird.
Können Sie mir jenes Gefühl — das unvergleichbare — nachfühlen, zum ersten Male öffentlich ein Ideal und sein Ziel bekannt zu haben, das Keiner sonst hat, das fast Niemand verstehen kann und dem nun ein armes Menschenleben genügen soll — so werden Sie mir auch nachfühlen, warum ich in diesem Jahre, sobald mein Beruf mich frei giebt, Einsamkeit brauche. Keinen Freund — Niemanden will ich dann, es ist so nöthig. Nehmen Sie dies, bitte, ohne Erörterung hin. —
Einige Worte Ihres Briefes haben mich fast erschreckt. Sind Sie wirklich je in Ihren Gedanken auch den furchtbaren Weg mit seinen Via-mala-Consequenzen gegangen — gehen Sie ihn nicht wieder! Ich wußte davon nichts. So weit ich Sie kennen lernte, würde ich aber mir zu sagen erlauben: Ihr Temperament und Ihre Lebensstellung sind dafür nicht geeignet: Unzufriedenheit und Qual wäre Ihr Loos, und Niemand hätte den Nutzen davon.
Gerne hätte ich von Ihnen etwas über Lipiners Eindruck auf Sie gehört. Bei mir hat er sich eigentlich durch seine wiederholten Versuche aus der Ferne her über mein Leben zu disponiren und durch Rath und That in dasselbe einzugreifen unmöglich gemacht. So etwas verabscheue ich: keiner meiner ältesten Freunde würde wagen, mir solche dreiste Dinge zu proponiren. Mangel an Scham — das ist es. Von so Einem muß ich ganz ferne sein, dann gelingt es mir ganz gut, selbst sein Freund zu werden — aber in partibus.
— Meine Schwester, welche diesmal mir es überlassen hat, dem trefflichen und edel gesinnten Briefschreiber zu danken, liest jetzt mein neues Buch, ist aber ferne davon, darüber ein böses Gesicht zu machen. Ich glaube, sie hält die Partien, auf welche Sie anspielen (Freigeist und Ehe) für richtig. Mit ihnen haben die abnormen Umstände, unter denen wir Geschwister uns entschlossen, eine Zeitlang zusammen zu leben und die Niemand näher zu kennen braucht, nichts zu thun. — Ich glaubte, daß alle Frauen sich beim Lesen solcher Dinge Glück wünschen würden, keine Freigeister zu Männern zu haben: und so meinte ich das eheliche Glück im Allgemeinen gefördert zu haben.
Nichts liegt mir entfernter als Proselyten zu machen: Niemand hat so wie ich vor dem Gefährlichen des Freien Geistes gewarnt und zurückgeschreckt.
Bleiben Sie mir gut, mein lieber Freund. Ihnen und Ihrer verehrten Frau Gemahlin
treulich zugethan
Friedrich Nietzsche.