1863, Briefe 340–403
400. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Gorenzen
<Pforta, 6. Dezember 1863>Am zweiten Sonntage der Ankunft.
Liebe Mamma und Lisbeth.
Nun, so habe ich denn euren Brief und sehe, daß es euch wohl geht, wie mir, nur daß wir uns beide nach Veränderung sehnen, ihr nach Naumburg, ich zu euch. Eure Bestimmungen über Weihnachten sind mir alle recht, genießen wir sie fröhlich und mit dem Gefühl, daß es die letzten sein können für einige Zeit, die wir gemeinsam verbringen. Das nächste Mal einsam in einer etwas fernen Universitätsstadt oder — nun auch im Felddienst in einer Wintercampagne für Schleswig Holstein.
Da fällt mir gleich das Wichtigste ein, was ich zu schreiben habe, daß ich nämlich bis Weihnachten noch meine sämmtlichen Militärzeugnisse brauche, die Bewilligung des Vormundes usw. Theilt dies dem Onkel Bernhard mit und bittet ihn, mir alles baldigst zuzuschicken. Loskommen werde ich schwerlich, mag es auch kaum —
Vor allem muß ich doch nach ihrem großen Interesse, das sie für diesen Gegenstand hegt, meiner lieben Lisbeth die Nachricht über unsre Temperatur und Witterung bringen; sie ist eine sehr kriegerische, während sie in Gorenzen eine sehr nebelige sein soll. Nun freilich, im Nebel noch „fade Unterhaltungsphrasen“ zu hören, das ist höchst mißlich; aber liebe Lisbeth, denkst du, daß meine Briefe dich fade unterhalten wollen? Das mußt du noch lernen, daß an und für sich kein Gegenstand der Unterhaltung unwerth ist, wenn du aber die Art meiner Unterhaltung fade nennst, so zucke ich mit den Achseln und bitte dich, den Brief noch einmal zu lesen.
Gestern hat uns ein Improvisator, Professor Bärmann, vorzüglich eine Stunde unterhalten, eine sehr liebenswürdige Persönlichkeit mit einem feinen und sehr gewandten Geiste. Wir stellten ihm Themata, unter denen vorzüglich eins gefiel: „Ueber die schwierige Erlernung der Mathematik“, was er ganz prächtig durchführte. Er schied von uns, höchst heiter und aufgeräumt; denn Lehrer und Schüler und Mädchen (wie ich meiner Deutschheit halber für „Damen“ schreibe) waren eins in seinem Lobe.
Doch was ist es, improvisiren? Unser Leben ist oftmals streckenweise eine poetische Improvisation, und man muß nur Phantasie mitbringen, um es als solche zu empfinden.
Lisbeth, Lisbeth, wo liegt der Schlüssel zu diesem Gedanken? Weißt du, was eine Sphinx ist? Mein Wetter ist jetzt eine Sphinx; für dich jedenfalls ein Räthsel.
Dies alles umschließe mit einer großen Parenthese; das Rebus ist gut, du kannst dich darauf verlassen; wenn du es fassen solltest, so ist es noch besser. —
Es geht mir ganz gut; ich besuche die liebe Tante Rosalie häufig, und sie ist sehr gütig gegen mich. Mitunter gehe ich auch zu Geheimerath Backs in Kösen. Mit meiner Reise mag es kommen, wie es will; zwar sollte der eine Tag hübsch in Naumburg werden, und ich wollte zum Abend mir meine Freunde einladen.
Grüße mir den lieben Onkel recht angelegentlich von mir; ich wünsche ihm alles jetzt von Herzen, was ihm wünschenswerth erscheint. Insbesondere daß er recht gesund und froh ist.
Nun lebt wohl, Mamma und Lisbeth, recht wohl!
Fritz.