1862, Briefe 292–339
323. An Elisabeth Nietzsche in Dresden
Gorenzen 7 Juli 62.
Liebe Lisbeth!
Zum ersten Male seit langer, langer Zeit erlebe ich deinen Geburtstag nicht mit dir zusammen; das thut dir und mir leid, das weiß ich, liebe Lisbeth, sehr leid! Im Geiste aber wollen wir viel an uns denken und uns gegenseitig vorstellen; hiezu brauchst du übrigens die mißlungene Photographie nicht anzuwenden, die ich am liebsten gar nicht mitsenden möchte. Mein Hauptgeschenk, liebe Lisbeth, bekommst du erst später, was du mir bei der Kürze der bis jetzt verflossenen Ferientage verzeihen magst —, und auch heimlich; denn es würde mich genieren, meine Produktionen den Augen so vieler feinen und kunstverständigen Gratulanten ausgesetzt zu wissen.
Ich befinde mich übrigens, wie du hoffentlich auch, ungemein wohl. Habe die ersten 3 Tage meiner Ferien in Naumburg logiert, bin im Circus Hinné gewesen, bin dann Freitag nach Gorenzen gereist und habe da ganz angenehme Tage verlebt. Gestern eine Rammeisburgpartie, die schon ans Abentheuerliche grenzte. Im Schloßsaal war Conzert; die gnädige Frau sang ganz nett, eine Gouvernante piepte jämmerlich in der Gnadenarie; im Ganzen echt dilettantenmäßig. Es war halb sieben Uhr geworden; der Himmel schwarz umwölkt. In einem Fabrikgebäude in das wir flüchteten, überraschte uns ein ziemlich großartiges Unwetter mit Blitz, Donner und Schloßen; als dieses aufgehört, machten wir uns (Mamma und ich) auf den Weg, wadeten im ungeheuren Schmutz und langweilten uns, bis endlich ein neues Wetter uns überfiel, und wir Arm in Arm, umleuchtet von den grellsten Blitzen recht gründlich durchnäßt wurden. Unser Aufzug war sehr lächerlich; sonst die ganze Geschichte etwas lebensgefährlich, was mich aber in gute Laune versetzte. Näheres darüber Mamma.
Da fällt mir eben ein, daß ich dir noch gar nicht gratuliert habe. Was ich dir wünsche, das wünschest du mir ja auch; weshalb es noch immer in Worte kleiden, was wir fühlen? Mein einziger Wunsch außerdem ist nur, daß alle Wünsche auch in Erfüllung gehen, wenn sie wirklich dein leibliches und geistiges Wohl bezwecken.
Ich schreibe dir in diesen Ferien noch einmal.
Bis dahin Adieu, liebe Lisbeth!
Dein Fritz Nietzsche