1862, Briefe 292–339
302. An Elisabeth Nietzsche in Dresden
<Pforta, Ende April 1862>
Liebe Elisabeth!
Indem ich dies schreibe, stehe ich am Stehpult, das Stehpult steht am Fenster, das Fenster bietet eine schöne Aussicht auf die blühende Linde und die sonnenbeschienenen Saalberge: die liebliche Natur aber erinnert mich sehr lebhaft an Dresden und die angenehmen, dort verlebten Tage. Um mich an dich zu erinnern, liebe, liebe Lisbeth, brauche ich nicht erst dergleichen etwas weitschweifige Erinnerungshebel: im Gegentheil denke ich so beispiellos oft an Dich, daß ich eigentlich fast immer an dich denke, nicht einmal, wenn ich schlafe, ausgenommen; denn ich träume ziemlich oft von dir und unserm Zusammensein.
Nicht wahr, es hat sich alles ganz köstlich getroffen? Ich habe es, bis ich wirklich fort war, nicht recht geglaubt, daß es zu der Reise kommen würde; und nun habe ich so wunderschöne Tage in Dresden verlebt und habe mich mit dir so oft und so ausführlich unterhalten können! Du bist doch eigentlich kaum 7 Wochen fort: Gott, die Zeit scheint mir ein kleines Jahrhundert zu sein! Und jetzt bildet mein Aufenthalt in Dresden den farbenreichen, poetischen Hintergrund für die Prosa meines Alltaglebens!
Ich hoffe, daß Du übrigens in keiner Beziehung traurig bist, daß ich nicht länger in Dresden bleiben konnte: mein Gott, Michaelis sehn wir uns ja wieder, und das ist ja kaum ein Halbjahr! Meinst Du, das ist ein schlechter Trost! Lieb ich nicht!?
Dresden ist ja zu gemüthlich, da wirst Du es doch die paar Monate aushalten können! Vor allen Dingen suche nur alle Kunstschätze Dresdens recht kennen zu lernen, damit Du auch in dieser Beziehung etwas Ordentliches profitierst. In die Bildergalerie mußt Du wöchentlich mindestens ein bis zweimal laufen, wenn Du dir auch nur immer zwei, drei Bilder so genau ansiehst, daß Du mir ein<e> detailierte Beschreibung (nat<ürlich> schriftlich) davon machen kannst. Nicht wahr, sehr egoistisch? Lieb’ ich nicht?
Meine Rückreise war mehr oder weniger langweilig; in Leipzig aß ich noch ein Beafsteak mit Lebensgefahr, wenigstens mit der Gefahr, sitzen zu bleiben, was aber aus Versehn nicht erfolgte. Besuchte in Naumburg meine Freunde und wandelte am Abend in ihrer Begleitung anmuthig meiner Pforte zu.
Außer diesen großartigen Ereignissen habe ich noch nichts Bedeutendes erlebt, da wir uns genugsam über alles gesprochen haben.
Lebe, beiläufig gesagt, recht hübsch wohl und denke ohne weitere sentimentalen Ergüsse an Deinen Dich
herzlich liebenden
Fritz.
Du wirst nicht verfehlen, liebe Lisbeth, meinen herzlichen Dank in rührenden und ergreifenden Worten Deinen lieben Pflegeältern auszusprechen. Das Nähere und Weitere überlasse ich Deinem Scharfsinne. —