1862, Briefe 292–339
313. An Franziska Nietzsche in Gorenzen
Pforta d. 6<—10.> Juni 1862.
Liebe Mamma!
Ich will erst einige Zeilen vor Pfingsten schreiben und den Brief dann nach Pfingsten vollenden. Zuvor meinen herzlichen Dank für deine beiden lieben Briefe, nach denen ich mich schon lange gesehnt hatte. Es freut mich, daß es dir so wohl geht, und ich kann dir glücklicherweise dasselbe auch über mich melden. Was ich erlebt habe, ist eigentlich wenig, aber doch ganz angenehm. Zuerst Bergtag und Fichtefeier, über die du schon das Wesentliche gelesen hast. Es regnete sehr gemüthlich auf dem Berge, so daß ich nur sehr wenig getanzt habe. Schulfest wie gewöhnlich. In dem Festaktus habe ich mein Gedicht „Ermanarichs Tod“ vorgetragen, das ich dir mitsenden würde, wenn ich Zeit zum Abschreiben hätte; es ist ziemlich lang. Hundstage werde ich es mitbringen. Ich hatte als Censur 2 a darin, es war das beste eigene Gedicht in der Klasse. — Zum Spaziergang war ich dann bei den Tanten in Naumburg. Nachmittag sprach ich lange Mad. Laubscher in Pforte, Abends habe ich wieder nur wenig getanzt.
Was dich noch interessieren könnte, ist, daß ich in einer großen lat. Arbeit „Aus welchen Gründen Cicero ins Exil gieng?“ die I als Censur erhalten habe, ob ich gleich sehr stark Partei wider Cicero genommen hatte. Eine I ist seit vielen Jahren bei Prof. Steinhart nicht vorgekommen; du kannst dir vorstellen, wie ich mich darüber freute. Voriges Jahr hatte ich um dieselbe Zeit bei Prof. Korssen eine I in der lateinischen Arbeit.
Ich habe übrigens gehofft, daß du mir deine Photographie zurücklassen würdest. Von meinen 6 Photographien bekommt die Tante Rosalie, Lisbeth und Du eine, die übrigen drei brauche ich in Pforte.
Nach Pfingsten.
Ich habe ganz angenehme Tage verlebt; der erste Feiertag war enorm schwül und heiß, daß man kaum denken konnte; alles war sehr langweilig. Am zweiten fieng es an zu rechter Zeit zu regnen; um ½12 gieng ich nach Naumburg zur Tante Rosalie, wo ich zu Mittag speiste, — sehr gut — und Kaffee trank. Eine außerordentlich freundliche Aufnahme! Wirgiengen zusammen unter fortwährendem Regen auf den Gottesacker, sahen da die Gräber an; dann zu den lieben Tanten hinaus, wo ich mich ziemlich lange aufgehalten habe und viel zusammen gesprochen. Am Abend aß ich wieder bei der Tante, gieng dann in unser Logis, schlief ganz gut. Stand um 4 Uhr auf, spielte Klavier, trank Kaffee, wozu mir Fr. Lurchenstein Pfingstkuchen brachte. Gieng dann zum Photographen, bei dem ich mich Tags zuvor angemeldet hatte, ließ mich photographiren. Scheint aber nicht besonders geworden zu sein, obgleich Henning behauptete daß alles sehr klar und deutlich sei usw. die Stellung hat er angegeben; ist sie nicht besonders, so ist’s nicht meine Schuld. Hundstage bringe ich dir eine mit. — Dann begab ich mich zu Pinders, wo ich sehr freundlich empfangen wurde und mit Wilhelm und Gust<av> angenehme Stunden verlebte. Alle erkundigten sich sehr nach dir und lassen dich herzlich grüßen, ebenso Mad. Laubscher. Am Abend um 9 gieng ich wieder heraus, nachdem ich Nachmittags noch mit den Freunden einen kleinen Spaziergang gemacht.
Nun habe ich noch die Bitte, daß du mir so genau als nur irgend möglich schreibst, ob es noch mit der Rügenreise etwas wird oder ob überhaupt es mit einer Reise (mit dem Onkel) etwas werden kann. Wenn nicht, dann ist es mein Wunsch und zugleich der von Hr. Rath Pinder, daß wir drei Freunde zusammen eine Harzparthie machten. Ob nun am Anfang oder am Ende der Ferien, das wäre zu erwägen. Ich könnte vielleicht die ersten 8 Tage in Naumburg sein, dann beginnen die Ferien meiner Freunde, und wir würden sogleich fortreisen, ungefähr 8 Tage brauchen, so daß ich dann das Ferienende in Gorenzen verlebte (2—3 Wochen) Ueberhaupt bin ich zu jeder Reise gern erbötig; ich reise auch nach Plauen, wenn’s gewünscht wird; oder nach Dresden; oder nach Berlin; oder Thüringer Wald. Zu jeder beliebigen Reise finde ich auch unter den Pförtnern am Anfang der Ferien Genossen. — Es sind nicht mehr drei Wochen, liebe Mamma, die Sache hat Eile. —
Sehr gefreut habe ich mich über die guten Nachrichten über den Onkel. Nur daß er schon so bald sein Amt wieder antreten will, das befremdet mich; es scheint mir noch zu zeitig.
Die besten Grüße an Tante und Kinderchen von allen Verwandten und Bekannten und vor allen von mir!
Adieu!
Dein FWNietzsche