1862, Briefe 292–339
292. An Rosalie Nietzsche in Naumburg
Pforte 11. 1. 62. scr<iptum>
Liebe Tante!
Wenn ich auch nicht persönlich an Deinem Geburtstag theilnehmen kann, so mag doch dieser Brief alle die herzlichen Wünsche aussprechen, die ich heute und immer für dich hege. Du hast mir stets und noch neulich so große Beweise Deiner Liebe gegeben, und ich kann dir mit nichts lohnen als mit innigen Gebeten für Dein Glück und Heil auch im neuen Jahre, das jetzt für dich anbricht. In den jetzigen Zeiten genügt die Bitte um leibliche Gesundheit und geistige Frische und Zufriedenheit nicht; denn wie nun einmal das Wohl des Staates auch das Wohl des Einzelnen bedingt, so müssen wir auch die Bitte um König und Land, um politische Ruhe der Völker mit in unser Gebet einschließen: Gott bewahre dich allezeit und schütze dich in Gefahren! Denn die Zukunft ist trüb und schwül.
Ich bin neulich glücklich noch nach Pforta herausgekommen: mit Gustav und Wilhelm verlebte ich die letzten Stunden meiner Ferien sehr heiter und in angenehmer Erinnerung an die verlebten Tage. Am Abend wurde ich trotz meines Widerstrebens noch zum Abendbrot von Frau Räthin Krug eingeladen, so daß ich also den ganzen Tag von der Güte und Freundlichkeit lieber Menschen gelebt habe. In Pforte ist mir’s bis dahin ganz gut ergangen; auch habe ich mich leidlich wieder in die Verhältnisse hinein gewöhnt; überdies ist ja in 12, 13 Wochen schon Ostern, eine neue Hoffnung! — Daß ich die lieben Tanten noch am Ende meiner Ferien besucht habe, ist mir sehr lieb; grüße Sie recht herzlich von mir und versichere Ihnen, daß ich oft an Sie denke; vielleicht besuche ich Sie nächstens eines Sonntags.
Ich wiederhole nochmals meine Wünsche und Gebete für Dein Glück und Heil, liebe Tante, und verbleibe
Dein
Dich
innig liebender
Fr.
W.
Nietzsche