1865, Briefe 459–489
487. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg
<Leipzig, nach dem 12. November 1865>
Meine liebe Mama und Lisbeth,
ich nehme an, daß Euch diese Zeilen noch in Naumburgs Mauern treffen und habe die Absicht Euch heute mit einem ragout meiner Erlebnisse zu unterhalten. Alles, was Ihr mir schreibt, ist mir recht angenehm gewesen, nur daß Ihr nicht über Leipzig reisen wollt, ist nicht hübsch. Schließlich seid Ihr nächsten Mittwoch noch in Naumburg und vielleicht gar in Leipzig, denn am sächsischen Bußtag findet unsre Aufführung statt.
Den Vetter Schenkel habe ich schließlich auch noch gefunden, nachdem ich den Gedanken ganz aufgegeben hatte. Wir sind sehr oft schon beisammen gewesen. Mit ihm zusammen werde ich einmal in Naumburg erscheinen. Vorigen Sonntag war die erste Quartettsoirée des Riedelschen Vereins. Nächsten Sonntag höre ich die erste Zukunftsmusikmatinée, auf deren Konzertprogramm für sämmtliche 10 Matinéen nur die Namen Wagner, Liszt, Berlioz sich zeigen. Ich habe nichts neues erlebt. Mein Tageslauf ist einfach. Ich stehe ½ 7 auf, arbeite bis 11 Uhr, gehe ins Colleg, dann zu Tisch (nicht mehr in die gute Quelle, sondern zu Mahn), sodann nach Hause, sodann von drei bis 5 wieder ins Colleg und arbeite je nach Belieben von da an bis zum Schlafengehn. Mein Ofen heizt gut. Die Kinder nebenan machen abscheulichen Lärm. Ich habe Doppelfenster. Wie vertreibt man Wanzen? (Stoßseufzer!) Das Wetter ist schlecht, regnerisch, der Boden schmutzig. Darum gehe ich nie ohne Ueberschuhe aus. Ich bitte Dich übrigens, liebe Mama, mir bis zu Ende des Monates 10 Thl. zu pumpen, da ich gar kein Geld mehr habe, das durch Collegien, Immatrikulation, Bücherankäufe, und durch das unvermeidliche Vorausbezahlen bei Haus- und Speisewirth draufgegangen ist. Sobald ich vom Vormund Geld bekomme, so schicke ichs Dir wieder. Aber bitte, sogleich!
Mein Umgang beschränkt sich bis jetzt noch auf Mushacke, Gersdorff, Rudolf und einige Bonner. Indessen mache ich doch ab und zu eine Bekanntschaft. Bei Nitzschens bin ich noch nicht gewesen, habe mir aber neulich Schloß Gohlis von innen und außen angesehen und auch die Töchter im Garten erblickt, mit einem photograph. Apparat beschäftigt. Auch in Altschönefeld und Abt-Naundorf war ich kürzlich auf einem meiner Spaziergänge. Mushacke hat es sehr wohl in Naumburg gefallen, habe ich das Euch nicht geschrieben? Den Kuchen haben wir beide zusammen vertilgt, wie Du angeordnet hast. Meine Vorräthe sind übrigens längst zu Ende. Was hat denn der alte Steinhart vor, wo will er denn hingehn? Daß mir Schenk schreiben will, freut mich. Stellt Euch nur vor, daß etwas über einen Monat ich wieder bei Euch in Naumburg bin. Jetzt wo wir uns so leicht besuchen können, verschwindet auch die Zeit erstaunlich schnell. Es wird also nächstens wieder nöthig sein, daß ich einen Wunschzettel für Weihnachten schreibe. Etwas Nachträgliches von meinem Geburtstag her habe ich Euch noch nicht gesagt. In Eurer großen Kiste war doch auch ein Paquet von Gersdorff; dies enthielt Grimms Festrede auf Schiller, eine meiner Lieblingsreden, schön gebunden, als Geburtstagsgabe. Briefe habe ich noch wenig bekommen. Ziemlich häufig aber Grüße von Pförtnern. Neulich war Almricher Kirmes! Habt Ihr denn Wunderlich eingeladen?
Somit wäre der Beutel voller Fragen, Wünschen und Antworten einstweilen geleert und ich habe Euch nur noch um einen baldigen Brief zu bitten, besonders auch wegen Gorenzen, über die Dauer Eures Aufenthalts und eure Zurückkunft.
Daß mir Lisbeth einen ausführlichen Brief schreiben wird, ist mir eine erfreuliche Aussicht. Was hat sie denn für ungeheure Dinge erlebt? Oder wird es ein Brief voll der schönsten Leihbibliotheksbücherrecensionen?
Adieu!
F W N.