1865, Briefe 459–489
471. An Oskar Wunderlich in Pforta
Bonn Dienstag. <Ende Juni 1865>
Mein lieber Freund,
Ich hoffe, daß Du noch nicht die bekränzte Stube verlassen hast und in die freie Welt hinaus geschlüpft bist. Wie glücklich müßt Ihr doch sein, so eidechsenhaft aus der dunkeln Höhle hinauskriechen zu können in den Sonnenschein.
Wir beneiden Euch hier beinahe ein wenig. Wie sehr täuscht doch die Freiheit. Der Mensch muß Zwang haben, um die Freiheit in wenigen dem Augenblick geraubten Zügen schlürfen zu können. Wir schlafen mit der guten Freiheit sozusagen im trägen Ehebett, was Wunder, wenn sie uns bisweilen etwas schaal und langweilig vorkommt.
Für Euch ist diese gute Dame noch eine feurige Geliebte.
Lieber Wunderlich, ist keine Möglichkeit, daß wir uns in den Ferien sehen können? Ich habe in diesem Semester fast nichts aus der alten Pforta vernommen, vermuthlich weil ich selbst so träg im Schreiben war. Aber eifrig haben wir Eurer gedacht. Wir Pförtner in der Frankonia bilden eine Art von engern Ausschuß. Wir haben öfter zusammen sogenannte Pförtnerspritzen gemacht mit der ausgesprochnen Absicht, recht viel Pforta zu „simpeln“. Dazu tranken wir schöne Erdbeerbowlen und wünschten Euch herbei [ + ] heißt in unserm Pförtneridiom Herr Rättnitz, Gräfe Herr Braune, Töpelmann ist Herr Uz und so sind die Aufwärterrollen auf das schönste vertheilt.
Mündlich werde ich Dir viel gerade über die Thätigkeit der Pförtner in der Verbindung erzählen. Nächstes Semester gehe ich ganz sicher nach Leipzig, da es seit wenig Tagen außer allem Zweifel ist, daß Ritschl dorthin geht. Dann bin ich doch dem lieben Thüringen wieder näher. Daß Gersdorff vielleicht auch nach L. gehen wird, weißt Du schon; es würde für mich eine ganz ungeheure Freude sein. Er schrieb im letzten Brief ganz entzückt über Dich und Deine liebenswürdigen Briefe, so daß ich ein klein wenig neidisch auf ihn war. Denn es ist ein großes Glück schöne Briefe zu empfangen. Meine Correspondenten scheinen für diesen Sommer eingeschlafen zu sein. Von Hause und von Gersdorff habe ich allein Nachricht bekommen.
Ich bin beinahe zu träge, um Dir eine Schilderung meines Lebens zu entwerfen. Es genüge, einige Feste zu nennen, die ich mit gefeiert habe oder noch feiern werde. In erster Reihe das große Kölner Musikfest, für mich ein Genuß höchsten Ranges. Dann das Fest der Vereinigung der Rheinlande mit Preußen, Abends prachtvolle Erleuchtung des Rheins und der Ufer. Dann ein gemeinschaftlicher Commers der drei Bonner Burschenschaften. Dann eine Mensur, wo ich mir einen Schmiß holte. Dann in nächster Nähe die nationale Arndtfeier. Ende des Semesters unser 20jähriger Stiftungscommers. Auf der Heimreise in Jena Jubiläum der deutschen Burschenschaft. Und dann Wiedersehen meiner alten Pforta und meiner jungen lieben Freunde. Das ist einstweilen das Festprogramm des Sommers, auf dessen Abschluß ich mich wohl am meisten freue.
Was macht denn mein lieber Kuttig? Ich fürchte, er ist vergraben in Bücher und Arbeit, daß er nicht herausgucken kann. Wenn er in den Ferien Zeit haben sollte, so bekomme ich vielleicht einige Zeilen von ihm. Oder kommt er vielleicht an den Rhein? Lieber Wunderlich, ich nehme Abschied von Dir, denke mitunter an mich und grüße alle meine Bekannten herzlich von mir.
Lebewohl!
Friedrich Nietzsche.
