1865, Briefe 459–489
476. An Carl von Gersdorff in Göttingen
<Bonn,> 4 August 1865.
Mein lieber Freund,
Wie spät bekommst Du Nachricht von mir. Ich will mich auch mit keinem Wort entschuldigen, sondern einfach mein Vergehen eingestehen. So bekommst Du denn den Nachklang meines ganzen Bonner Lebens, das ich wirklich schon als abgeschlossen betrachte. In einer Woche werde ich nicht mehr hier sein.
Ich habe die Hoffnung, daß wir uns sicher in Leipzig treffen. Ritschl hat mir gestern erzählt, daß er sein Wort den Leipzigern gegeben habe und daß er sehr gern dahin gienge. Er freut sich nach den Wirren einer vielseitigen amtlichen Thätigkeit wieder einfacher simpler Professor zu werden. Er wird als Privatum die Geschichte der griech. Tragoedie und die Sieben gegen Theben lesen, als Publikum lateinische Epigraphik und zwar als Interpretationscolleg; er läßt zu diesem Behufe von jedem epigr. Monument 50 Platten abnehmen. Es wird eine kleine Bonner Colonie nach Leipzig übersiedeln.
Ich gehe nun zwar nicht nach Leipzig, um dort nur Philologie zu treiben, sondern ich will mich wesentlich in der Musik ausbilden. Dazu habe ich in Bonn schlechterdings keine Gelegenheit. Vielleicht schrieb ich Dir um Neujahr, daß ich in diesem Jahre weder dichten noch componieren wollte. Das Erstere habe ich bisjetzt durchgesetzt — genug Grund, um zu glauben, daß diese Ader erschöpft ist — gegen das Zweite habe ich erst ganz kürzlich verstoßen, indem ich wieder ein Lied gemacht habe. Ich werde ein wenig zu kritisch, um mich noch länger über etwaige Begabung täuschen zu können. Darum suche ich mein kritisches Vermögen überhaupt zu entwickeln.
Mein lieber Freund, wie schaal und langweilig sind alle diese Notizen. Ebenso nüchtern zähle ich einige Feste auf, an denen ich schöne und glückliche Augenblicke — und das Glück zählt nach Augenblicken — genossen habe. So nenne ich in erster Reihe das Kölner Musikfest. Sodann das Arndtfest, über das Du das Genauere aus den Zeitungen wissen wirst. Das Beste daran war die Rede von Sybel am 2t. Tage.
Einige recht ruhige schöne Tage habe ich in letzter Zeit in Bad Ems erlebt. Ich bin die letzten Wochn immer krank gewesen und habe viel zu Bett gelegen, sogar in jenen glühenden Tagen; mein Leiden ist ein heftiger Rheumatismus der aus den Armen in den Hals kroch, von da in die Backe und in die Zähne und gegenwärtig mir täglich die stechendsten Kopfschmerzen verursacht. Ich bin durch diese fortwährenden Schmerzen sehr abgemattet, und meistens ganz apathisch gegen Außendinge. An einigen Tagen, wo ich mich besser fühlte, war ich in Ems. Du kannst Dir vorstellen, wie wohlthuend dies stille rücksichtsvolle, diäte Leben, diese immer frische und erhebende Natur, diese frohen geputzten Menschen auf mich wirkten.
Für die letzte Zeit meines Aufenthalts in Bonn habe ich fabelhaft zu thun besonders für den studentischen Gustav-Adolfverein, dessen Schriftführer ich bin. Dann harren eine große Menge Briefe der Beantwortung.
Eben denke ich daran, daß heute die Pförtner wieder in ihre Mauern einziehen. O über die Armen, die mit kaltschauerlichen Empfindungen zum ersten Male wieder in den neuangestrichnen ungemüthlichen Betsaal hinuntersteigen!
Kuttig und Schmidtborn, so wie auch Ammon haben uns öfter in der letzten Zeit besucht.
Was den Leipziger Aufenthalt betrifft, so habe ich die freudige Aussicht, daß meine Mutter und Schwester mit mir ein Jahr nach Leipzig übersiedeln werden.
Verzeihe lieber Freund mir auch diesen ungemüthlichen Brief. Aber das heftige Stechen im Kopf hindert jeden Zusammenhang. Auf ein fröhliches Wiedersehn in Leipzig!
Dein Dich herzlich liebender
F. W. Nietzsche.
