1865, Briefe 459–489
484. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg
<Leipzig, 26. Oktober 1865>
Liebe Mama und Lisbeth,
auf Eure freundliche Einladung komme ich nächsten Sonntag zusammen mit Freund Mushacke. Um 5 Uhr werden wir natürlich nicht abfahren, um Euch nicht zu stören, wohl aber mit dem nächsten Zug; wozu ich mir schönes Wetter wünsche, da wir jetzt viel von seinen Schwankungen zu leiden haben und nur mit Mühe unter den Unannehmlichkeiten der Witterung und der Gegenwart die Heiterkeit des Gemüthes aufrechterhalten; aber nein, Heiterkeit ist mir fremd, sage ich lieber Ruhe.
Ich mag nämlich diesen Brief nicht mit Klagen anheben, da Du denken könntest, ich wäre von solchen Unfällen ganz niedergebeugt. Die Wahrheit ist: der Koffer ist noch nicht da und die Eisenbahn- und Postexpeditionen haben keine Ahnung, obwohl sie nach Naumburg geschrieben haben. Ich muß also vielleicht meine besten Bücher und was mehr werth ist, meine Manuscripte und auch meine Kleider für verloren oder gestohlen achten. Denn so spät könnt Ihr ja den Koffer nicht aufgegeben haben, daß er heute am 26 nicht da wäre, selbst angenommen, Ihr hättet ihn später abgesandt, als es mein Wunsch war. Für meine Arbeit war der 21te der späteste Termin; das war also verfehlt. Doch ich kann mich über alles trösten, da die Zukunft manches wieder gut machen wird was die Gegenwart verdarb. Hätte ich nur erst Gewißheit. Ich bin überzeugt, daß Ihr gar keine Schuld an der Verzögerung habt. Ich glaubte zwar so eindringlich wie es nur möglich war, das Loos meiner Arbeit, das rechte Eintreffen derselben Euch und besonders meiner lieben und sorglichen Lisbeth ans Herz gelegt zu haben; aber vielleicht habe ichs undeutlich ausgedrückt oder sonst etwas. Schließlich bin ich doch an allem Schuld. Warum habe ich nicht den Koffer auf den Rücken genommen und ihn selbst nach Leipzig getragen.
Nun ist es freilich etwas unbequem für mich. Die Collegien haben längst begonnen und mir fehlt immer eins oder das andre. Philologisches kann ich zu hause fast nichts treiben, da mir mein Handwerkzeug fehlt. Ich kann nicht kochen, wenn mir Rindfleisch zugleich und der Kochtopf fehlt. Den Oldagschen Pack bekam ich vor ein paar Tagen. Wir haben den Mann allerdings etwas mild behandelt; es soll aber gelten, verbrenne den Brief. Es war sehr schlecht gepackt. Die Bücher sind vielfach geschunden und auf der verrenkten Matratze ist schlecht liegen.
Eine rechte Sorge hatte ich, wie ich gar keinen Brief bekam; ich dachte, Du wärst in Halle erkrankt und wußte nicht, wohin ich nun schreiben sollte.
So sind mir denn heute die Weintrauben kaum süßer, als der sie begleitende Brief. Nun habe ich darüber nachgedacht, was ich neulich über Deine lieben Geburtstagsgeschenke geschrieben. Sollte es wirklich so wenig dankbar geklungen haben? Es ist schmerzlich daß ich dies glauben muß. Und ich kann doch betheuern, daß ich nie für Geschenke in dem Grade dankbar bin, wie sie mir gefallen, wie sie etwa meiner Laune zusagen. Wenn mir der König eine Provinz schenkte, so würde ich ihm nicht mehr Dank wissen als wenn Du mir einen wollnen Strumpf schenkst. Denn es kann mehr Liebe hineingestrickt sein, als z. B. eine ganze Provinz für Preußens König hegt. Eher möchte ich behaupten, daß wohl nichts mit so herzlichem Gefühle geschenkt wird, als was eine Mutter ihrem Sohne schenkt. Denn sie weiht alles durch ihre Liebe und möchte jede ihrer Gaben zu einem Amulete für ihren Sohn machen. Und man braucht auch Amulete in dieser wilden und durchaus feindlichen Welt. —
Gersdorff ist da und wir kommen öfter zusammen. Wo bleibt aber Rudolf? — Ritschl hielt gestern seine Antrittsrede; wir haben uns gesprochen; er wird angestaunt wie einUnthier. „Ne! was der alte Mann für Feier hat!“ sagte ein alter Sächser.
Lebt wohl und denkt freundlich
an F. W. N.
des Donnerstags Nacht.