1865, Briefe 459–489
480. An Hermann Mushacke in Berlin
Naumburg am 20 S. <1865>
Mein lieber Freund,
ich schreibe in der Voraussetzung, daß Du jetzt in Berlin weilst und die Bonner Ascese überstanden hast. Meine Zeilen sollen Dir Zeit und Stunde verkündigen, wann ich in Berlin eintreffen werde: am 1st Oktober Sonntag Nachmittag c. 6 Uhr.
Um nicht gleich zuerst den Gefahren einer Irrfahrt in einem ganz unbekannten Terrain mich auszusetzen, ersuche ich Dich auf dem Bahnhof meine Ankunft zu erwarten, und ich hoffe daß Lokomotive und Lokomotivführer ihre Pflicht thun, damit Du nicht zu lange zu warten hast. Zudem kann ich mich in Addreßbüchern nur sehr schwer zurecht finden, besonders im Berliner, wo vielleicht auch die species Mushacke in wer weiß wie vielen Exemplaren vertreten ist.
Mein jetziges Leben ist eine Vorbereitungszeit auf Berlin, wie unser irdisches Dasein auf zukünftige Himmel, ohne übrigens Berlin so ohne weiteres mit einem Himmel in Analogie zu setzen. Ich genieße die Stille und die Ausgeflogenheit einer Provincialstadt und schaue fleißig in die blaue reine Luft und in meinen höchst geistlosen Theognis. Zum Kaffe esse ich etwas Hegelsche Philosophie, und habe ich schlechten Appetit, so nehme ich Straußische Pillen ein, etwa „die Ganzen und die Halben.“ Mitunter habe ich Lust zu simpeln, dann gehe ich nach Pforte und hole mir Corssen nach Almrich, wo dann Bier und Ritschl geknippen wird, letzterer natürlich mit geistigen Fingern. Im Allgemeinen wird die Seele bei diesem ereignißlosen Vegetiren so innerlich, daß Berlin sehr kräftig auf mich wirken muß. Vorgestern war ich in einem Naumburger Liebhabertheater, ein ungeheures Ereigniß. Die Hauptrolle spielte eine Buchbindersfrau, sodann ein Schusterjunge als Landrath und ein alter Naumburger Domschüler als Pair von Frankreich oder vielmehr nach Thüringer Aussprache als „Bär“.
Ich komme mir oft selbst so vor, wie so ein Herbstnachmittag, gleichmäßig still, aber auch beim Zeus! langweilig, indessen mit vollstem Behagen. An Berlin glaube ich; und der Glaube soll ja selig machen!
Von Zeit zu Zeit stirbt jemand im Ort oder ein behagliches Gerücht zieht wie alter Weibersommer von Haus zu Haus. Ich habe übrigens eine Romanfigur entdeckt, in Gestalt eines Kön. Preuß. Appellationsraths. Die Katzen spinnen in der warmen Sonne und im röthlichen Laube spielt der Wind Verstecken. Die Pflaumen sind schön und groß, aber theuer, ebenso die Butter. Das macht, der König und das Manoevre haben Appetit, dafür bezahlt ersterer mit kleinen Sternchen und Vögelchen. Er hat auch nach Pforte kommen <wollen> und 15 Primaner haben sich Fracks machen lassen und siehe! die Fracks kamen, aber der König nicht. Naumburg hat ihm nach Merseburg Naumburger Wein geschickt, im Lande wird man sagen, aus Ironie, um saure Gesinnungen anzudeuten: au contraire der Naumburger ist stolz auf seinen Wein, wie der Philister auf seine Pfeife, oder wie ich auf meinen Theognis. Trotz dem bleiben Naumburger Wein, philiströse Pfeifen und der gute Theognis, was sie waren; es ist ein Glück, wenn man ersteren nicht kennt, es ist ein Glück, wenn man am zweiten nicht erkannt wird, es ist ein Glück, daß man den letzten nicht kennt. Kürzlich ist ein Conditor gestorben, der einzige, zu dem ich gern gieng, nun ist der Mann so unanständig gewesen zu sterben, und hat mir den Appetit verdorben. Glückliches Naumburg mit Deinem Conditor, mit Deinen Räthen, mit Deinen Katzen und Jungfrauen, Dich soll ich verlassen? —
Allerdings, am 1ten Oktober, an dem ich meinen Freund H. Mushacke im Kreis seiner höchst werthen Angehörigen wiederfinden werde.
Theognis
antiker Kleinstädter außer
Dienst.
Ich bitte Deine werthen Angehörigen auf das freundlichste zu grüßen.