1865, Briefe 459–489
481. An Eduard Mushacke in Berlin
Leipzig den 19 Okt. 1865.
Hochgeschätzter Freund,
es ist mir einigermaßen schwer geworden, den Brief mit dieser Anrede zu beginnen; ich weiß nicht gewiß, ob es schicklich ist zu einem Manne, zu dem ich noch lieber „mein Vater“ sagen möchte, in dieser Weise zu reden. Aber die deutsche Sprache hilft mir nicht aus dieser Verlegenheit. Griechisch könnte ich beginnen „ὦ φίλε“, und das würde sich schon besser machen.
Schließlich ist die Gesinnung das wesentliche, und die Worte, die ich wähle sind mehr oder weniger gleichgültig. Mein dankbares und herzliches Gefühl, das ich Dir gegenüber empfinde, bleibt sich dabei gleich. Ich habe das Glück erfahren, einen Freund auch in seinen Eltern lieben zu können.
Diese Zeilen, die ich jetzt an Dich richte, sind die ersten in dem neuen Semester und in der neuen Wohnung. Mögen sie deshalb von guter Vorbedeutung sein.
Wir haben beide, Hermann und ich, in Leipzig noch keine unangenehmen Erfahrungen gemacht. Mit den Wohnungen dürfen wir zufrieden sein. Sie liegen bei einander, das ist das Beste. Ich habe einen Antiquar zum Wirth, der außer Büchern leider auch kleine Kinder hat, die ziemlich viel schreien.
Die Luft ist rein, Blumengärten liegen herum, es ist feierlich still, nur eine Geldschrankfabrik macht Getöse und die besagten kleinen Kinder.
Die Leipziger Studenten mißfallen uns. Sie sind zumeist knirpsartig und scheinen dumm. Das ist ein Vorurtheil. Heute vor hundert Jahren wurde der Student Wolfgang Göthe immatrikulirt.
Wir haben die bescheidne Hoffnung, daß man nach wieder hundert Jahren auch unsrer Immatrikulation gedenkt. Genug, daß Dein Name dadurch unsterblich wird, wenn er es bis dahin noch nicht geworden sein sollte.
Und der Kalender wird ja schon für letzteres sorgen.
Damit will ich heute schließen. Ich wünsche mir Gelegenheiten, wo ich die Liebe, die ich Dir und Deiner werthen Familie schulde, thätlich beweisen kann. Heute habe ich nichts als Worte.
Lebe wohl!
Friedrich Wilhelm Nietzsche.