1865, Briefe 459–489
483. An Franziska Nietzsche in Colditz
<Leipzig, 22. Oktober 1865>
Meine liebe Mama,
mein erster Wunsch ist, daß Dich dieser Brief richtig in Colditz antreffen möge. Denn vielleicht ist mein Brief ebenso unglücklich wie ich selbst und sucht Dich überall ohne Dich zu finden. Es ist ein sehr trüber Sonntagsnachmittag. Der Regen tropft leise auf das Zinkdach, das unter meinen zwei Fenstern hinläuft. Viele Menschen wohnen um mich herum und ich kann in ihre Wohnungen sehn. Lauter verdrießliche Gesichter! Und in den Gärten, die sich rechts und links von mir ausbreiten, ist alles gelb, mumienhaft, oede.
Das ist nun meine Welt! Meine Wohnung scheint zuthunlich. Wenn ich viel drin gearbeitet habe, wird sie wohl gemüthlich werden. Jetzt ist sie mir noch ungewohnt wie ein neues Kleid.
Aber ich habe schon viel Verdruß hier gehabt. Wo ist mein Gepäck geblieben? Wie hatte ich Euch seine Besorgung ans Herz gelegt. Aber nein! Ihr habt es besorgt, auf das beste besorgt. Aber irgend wer hat gebummelt. Die bösen Eisenbahnen, die bösen Spediteure! Ich werde auf die ganze Welt böse, denn wo bleiben meine Theognispapiere? Ach, der Tag ist vorüber, wo ich sie abgeben konnte, um einen Nutzen davon zu haben. Und ich hatte so schön gearbeitet und so hübsche Ergebnisse gefunden!
Morgen fangen die Collegien an, ich habe mich noch gar nicht einrichten können. Aus Langeweile treibe ich mich den ganzen Tag in Leipzig herum, denn zu Hause schauen mich leere Wände, leere Schränke an. Denn auch Oldags, die bösen Oldags haben bis diesen Moment noch nichts geschickt.
Und alles das hätte ich vergessen, wenn ich Dich getroffen hätte, liebe Mama. Den ganzen Tag bin ich von Bahnhof zur Post und von der Post zu dem Bahnhof gelaufen, aber ich fand niemand. Was hatte ich Dir nicht alles zu erzählen! Wie Dir zu danken für die angenehmen Geburtstagsgaben, die ich zum Theil erst gebrauchen kann, wenn mein Hausstand eingerichtet ist. Dabei muß ich doch bemerken, daß ich keine Handschuhe gefunden habe, ebenso wenig das, was Du als Ballschmuck bezeichnest. Außer der Wäsche war in dem Kistchen das Geld der Tante, der Kuchen, die Wurst, Zucker, Kaffe, wollne Jacke, Slips und die hübsche Tasse.
Auch das Geld vom Onkel Bernhard kam erst am dritten Tag an.
Meine Wirthsleute scheinen reinlich und ordentlich, haben aber leider kleine schreiende Kinder. Der Mann ist Antiquar. Das Berliner Leben war ausnehmend freundlich und genußreich. Der alte Mushacke ist der liebenswürdigste Mann, den ich kennen gelernt habe. Wir nennen uns Du. An meinem Geburtstag haben wir Euer Wohl in Champagner getrunken.
Nun adieu! Grüße mir den Onkel und die Tante, ich möchte beinahe schreiben, unbekannter Weise, so wenig haben wir uns in den letzten Jahren gesehn.
Fritz.
„Blumengasse 4 im Garten.“