1865, Briefe 459–489
465. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg
Bonn am dritten Mai. <1865>
Liebe Mama und Lisbeth,
vielleicht habt Ihr schon einige Tage lang auf einen Brief von mir gewartet. Nicht sowohl, um viel Neues von mir zu hören, als um einige allgemeine Bemerkungen über die verflossne Zeit des Zusammenlebens zu vernehmen.
Es kam mir darauf an, die Gegensätze des Naumburger und des Bonner Lebens recht scharf einmal neben einander zu stellen. Zudem macht die Verbindung im Beginn des Semesters größere Ansprüche, denen man auch gern willfahrtet, da man alte liebe Menschen nach längerer Trennung wieder zu genießen wünscht, neue in reichlicher Fülle kennen lernt. Dabei stärkt man sich in der „Verführungskunst“, obgleich man anderseits ebenfalls verführt wird und muthig seine Zeit zumeist im Freien und in der Kneipe verbringt.
Die Collegien haben erst spärlich begonnen. Wir haben uns auf vieles Interessante zu freuen. Der Streit Ritschl’s und Jahns ist in ein neues und äußerstes Stadium getreten, und Ritschl ist beim Ministerium um seine Entlassung eingekommen. Niemand kann sich der Sache freuen, vielleicht mit Ausnahme der hiesigen Theologen, denen ein Skandal dieser Art unter den Philosophen, den Vertretern der Humanität, gar nicht unangenehm sein mag.
Es ist ein wunderschöner Frühlingsmorgen; wir haben ein gleichmäßiges Wetter mit heißen Mittagen, schönen Abendsonnen und mäßig kühlen Nächten, wie es wohl zusammenstimmt mit den Blüthenbäumen und dem grünwogenden hellen Rheine. Wir benutzen häufig die Dampfschiffe, die jetzt schon bunte Rheinreisende Fremde in reicher Anzahl auf und nieder führen. Für ein nicht zu blödes Gemüth findet sich Gelegenheit Bekanntschaften zu knüpfen, allerdings so flüchtig wie die Stromwelle. Noch mehr muthen mir Kahnpartien zu, wir haben ein paar Flaschen Wein mit darin, die Sonne ist untergegangen, und der Abendstern tritt hell an dem klaren Himmel herauf. Dann denken wir oft an das liebe Saalthal und singen „An der Saale kühlem Strande“
Dir, liebe Lisbeth, werden offenbar diese sentimentalen Züge gefallen, und ich hätte fast noch Lust, Dir einiges von der Poesie meiner Kaffemaschine, von meinen „saure Milch- und Fischmahlzeiten“ mitzutheilen. Weniger angenehm ist die Schwüle meines Zimmers, das trotz der drei Rouleaux nur am Morgen bewohnbar ist. Ebenso unlieb ist mir der Mangel eines Klaviers. Mein neuer Anzug wird heute ankommen. Ich habe mir einen hübschen Stoff gewählt und den modernsten Schnitt bestellt. Das Thier kostet 17 Thl., einen Thaler habe ich abgehandelt. Das Geld vergeht „wie die Blume des Feldes oder wie die Welle des Stroms.“
Die Ferien sind mir trotz einzelner Punkte eine sehr liebe Erinnerung, und ich bin Euch recht herzlichen Dank schuldig für die wohlthuende Liebe, die Ihr mir immer gezeigt habt. Wie sehr vermisse ich jetzt das gemüthliche Familienleben. Meine Reise war theuer, aber bequem und schnell. In Weimar war ich mit Bormann zusammen im Adler, sein Onkel war krank, und darum wollte ich die Familie nicht belästigen. Auf dem Bahnhofe lernte ich noch den Staatsanwalt Keil kennen, den Verfasser der Geschichte „der jenenser Burschenschaft“. Auf der Reise habe ich viel geschlafen.
Erwacht jetzt nicht auch in Euch die Reiselust? Ich wünschte Euch wohl einmal heran an den Rhein. Meine Pläne für das Zukünftige reifen allmählich. Seit gestern habe ich erst das rechte philologische Bewußtsein, da ich nun unwiderruflich der philos. Fakultät angehöre. Diesen Sommer will ich vor allem noch etwas Französisch sprechen lernen. Ueber die Herbstferien und das nächste Semester schreibe ich Euch nächstens einmal.
In jeder Beziehung habe ich jetzt das Bestreben mich zu centralisiren.
In meinen Stiefeln sind wieder schreckliche Unebenheiten und Hügel. Sie können es nicht vertragen mit Füßen getreten zu werden.
Nun, liebe Lisbeth, ist Dir die tiefe Idee des Gleichnisses klar? Denke nur darüber nach und vertiefe Dich andächtig in den — Stiefel.
— Es ist wieder ein schöner Morgen, meine Arbeit ist vor kurzem vollständig fertig geworden, und heute wird sie abgegeben. Um 7 Uhr werde ich in das Colleg gehn.
Das ist sicher, daß wir jetzt noch schönere Ferien mitsammen verleben würden. Denkt an Morgenspaziergänge.
Die Entfernung bis zu den Herbstferien kommt mir erstaunlich gering vor. Aber es soll viel in der Zeit geschehn. Schreibt mir recht bald einmal.
Aufrichtig, wenn ich Euch immer Geschichten und äußere Erlebnisse mittheilen soll, da wird das Brief schreiben oft recht schwer. Spritzfahrten sehen sich auf ein Haar äußerlich ähnlich und mit einem „Schön und Reizend“ ist niemandem gedient. Erkiesen wir uns andre Briefgegenstände.
Nun meine liebe liebe Mamma sammt der guten Elisabeth und den freundlichen Tanten
denkt meiner recht oft.
Fritz.