1866, Briefe 490–534
527. An Hermann Mushacke in Berlin (nicht abgeschickt)
<Leipzig, Dezember 1866>
Lieber Freund,
Es ist doch die vortrefflichste Zeit des Jahres, in der wir jetzt stehen: je älter wir werden — und man wird bedauerlicher Weise sehr schnell alt — um so ferner stellen wir uns zwar zu der sogenannten „Bedeutung“ dieser Zeit, aber die Erinnerung an die glücklichen Empfindungen der Kindheit sichert dieser Zeit auch in späteren Jahren ein herzliches Willkommen. Man sieht so viele hoffende, freundliche, kindlich erregte Gesichter, überall sieht man den geheimen Wunsch, jemanden zu erfreuen und glücklich zu machen, man giebt Geld aus für unnütze Dinge, man schenkt, während man sonst nur bezahlt — und nun verläumde einer noch die Zeit, in der ein ideales, willenverneinendes (speziell Geldbeutel-reinigendes) Moment waltet und wirkt und zwar mitten in den egoistischen Strömen des 19t. Jhds, und zwar durch den Einfluß — der Religion, wie mein orthodoxer Onkel dazuzusetzen sich nicht versagen würde.
Doch meine Absicht ist keineswegs, diesen Päan noch länger fortzusetzen, dergleichen uns die Zeitungen täglich en masse darzubringen pflegen. Vielmehr wollte ich mich mit Dir etwas gemächlich unterhalten, und wenn da ein überflüssiges Wort von meiner Seite mit hinzufließt, so wirst Du es verzeihen, da Du an Ähnliches bei mir leider schon gewöhnt sein mußt. Außerdem weißt Du, daß „bejahrte Leute“ (nach meiner ersten Briefseite) auch das Recht haben, etwas geschwätzig zu sein.
In den letzten Wochen habe ich nichts so sehr in Leipzig vermißt als eben Dich selbst, und zwar aus folgendem Grunde. Nach den vielen Gefälligkeiten, die Du mir erwiesen hast, lechze ich darnach, Dir mit einer Entgegnung zu gefallen zu suchen, und das Schicksal resp. Ritschl hatte eine Gelegenheit dazu in mein Garn getrieben, für den Fall, daß Du in Leipzig seist.
Er hatte mir nämlich ein hübsches Thema für eine Doktordissertation gegeben, um einen Freund von mir für dasselbe ausfindig zu machen. Mein erster Gedanke warst Du natürlich: so höre denn, ob es Dir behagt.
Wir haben in der Ausgabe des Stobäus von Meinecke alles Gnomologische zusammen, mit einer Ausnahme. Die Spruchsammlungen des Maximus Confessor und Antonius Melissa sind zum letzten Male, soviel ich weiß, im 17t Jhd. herausgegeben und zwar untereinandergemischt. Nun hat Ritschl die editio princeps sich verschafft; es wird wohl auch möglich sein, einen codex selbst sich kommen zu lassen oder auch eine Collation zu verschaffen. Also Stoff zur Doktordissertation: 1. Die Geschichte des Textes, also codd. und edd. 2. was ganz interessant und sehr belehrend ist, die Quellen nachzuweisen, die die besagten Mönche für ihre Sammlungen benutzt haben, also die älteren Gnomologien, Stobaeus an der Spitze, für den sich vielleicht textlich etwas gewinnen läßt. Darauf würde dann eine Herausgabe der Sammlungen (natürlich nur der profanen Bestandtheile: sie enthalten auch viel Kirchliches) folgen, unabhängig von der Dissertation.
Gefiele Dir dies Thema, so wäre es am Ende auch möglich, daß Du in Berlin daran arbeitest: Ritschl kann ja nichts dagegen haben. Solltest Du also auf den Vorschlag eingehen — was ich nicht rathen, aber wohl freundschaftlich wünschen darf — so gieb mir eine kurze Notiz. Ich gehe dann direkt zu Ritschl, der sehr gern darauf eingehen muß; ich schreibe Dir wieder, Du bekommst, was Ritschl an Material hat und bist vielleicht im neuen Jahre einmal im Stande, Ritschl zu besuchen: was der alte Mann sehr gern hat. Vorbildlich für eine derartige Arbeit ist etwa Ritschls Aufsatz über das Gnomologium Vindobonense, Bonner indices vom Jahr 1839 und 40 (auch im demnächst erscheinenden fasciculus II seiner opuscula). Die besten Hdschr. für Maximus Confessor etc. sind Laurent. VII. 15 (sec. XI) und XI. 14 (sec. XII) cf. Rose Aristot. pseudepigr. p. 607. Nützlich: O. Bernhardt „zur Gnomologienlitteratur“. Sorau, aus den letzten Jahren.
Dies empfehle ich somit Deiner Überlegung: gefällt Dir der Vorschlag, so machst Du niemandem eine größere Freude als mir.
Wird es Dich nicht wundern, daß Deussen noch nicht — mein letzter Brief war aus Anfang September oder Ende August — es für gut hält, mir zu antworten? Ja daß ich selbst von Gersdorff seit Oktober keine Nachricht bekommen habe? Letztere<r> hat ebenso sicher dafür eine triftige Entschuldigung, wie ersterer keine hat. Ich würde längst an Deussen geschrieben haben, wenn ich nur wüßte, wo er lebte.