1866, Briefe 490–534
526. An Hermann Mushacke in Berlin
Leipzig im Novemb. 1866.
Lieber Freund,
Dein vortrefflicher letzter Brief, mit dem Du meinen Geburtstagstisch schmücktest, war der einzige, der meine Freunde vertrat und erinnerte mich recht lebhaft an die vielen Stunden der Anregung, der Erhebung und der innerlichen Freude, die ich ihnen so reichlich schulde: und wenn er mir gerade Dein Bild am deutlichsten vor die Seele rief, so liegt die Ursache dazu sehr nahe.
Zugleich empfieng ich durch Deine Güte die erbetenen Programme, aus denen ich immerhin einiges gebrauchen kann: im Allgemeinen muß man ja diese aeschyleischen Arbeiten solcher Art sehr vorsichtig aufnehmen, da sich unter hundert κριτικοὶ kaum zwei γνήσιοι und 98 νόθοι befinden.
Heute habe ich Dir etwas andres vorzulegen. Es wäre mir nämlich sehr interessant, über folgende Stellen des Properz sowohl Deine als Haupts Ansichten zu hören, und zwar wenn es Dir paßt, recht bald.
III 25, 17 (nach der Hauptischen Ausgabe citirt)
IV. 8, 26
V. 9, 68.
Worauf es ankommt, wirst Du wissen und ich füge deshalb kein Wort hinzu.
Ich bin also seit Mitte Oktobers in Leipzig und habe eine Reihe von ruhigen und arbeitsamen Tagen durchlebt. Seit dem 5 t. November haben auch die Collegien wieder ihren Anfang genommen, die mir recht ersprießlich zu sein scheinen. Sowohl Ritschls lat. Grammat. obwohl von mir schon gehört, als auch Curtius’ griechische Grammat. und griech. Lyriker haben ihre anziehende Seite; wenn ich noch Tischendorfs Paläographie nenne, so weißt Du alles, was ich höre.
Außerdem bin ich regelmäßig Montags Mittwochs und Sonnabends in den Nachmittagsstunden auf der Stadtbibliothek, wo ich durch Ritschls Verwendung Zutritt zu dem reichen Handschriftenschatze habe. Hier bin ich bis jetzt mit der Collation einer Orosiushdsch und eines Terenz aus dem 10t. Jh. beschäftigt gewesen. So beschränkt auch die guten Sachsen in politischer Beziehung sind, und so abscheulich auch die Anfeindungen unsrer Gesinnungsgenossen — der Biedermänner, Freitage — sich ausnehmen, freundliche und gefällige Bibliothekare bringt Sachsen hervor; der alte Naumann ist ein Muster von Zuvorkommenheit, wie ebenfalls auf der Universitätsbibliothek sich unser Pückert auszeichnet, den Du ja auch noch kennst. Der „Diskusschwinger“ ist zu meiner Freude dort nicht mehr sichtbar.
Immer mehr gewöhne ich mich an das gute Leipzig und ich fürchte, daß ich nicht so schnell wieder von hier weggehe. Mit welchem Rechte ich das sage, wird Dir am Schlusse des Briefes deutlich sein.
In diesem Winter soll alles Mögliche gethan werden. Insbesondere gedenken wir unserem Verein einen besonderen Schwung zu geben, so daß er, wie eine Kugel, noch über einige Semester hinaus fortläuft, die wir, die Gründer, vielleicht nicht mehr in ihm zubringen können. Ich denke viel über eine Erweiterung nach; unser Ziel soll sein „eine Vereinigung aller wirklich strebsamen Philologen in Leipzig“. Zu diesem Zwecke haben wir auch 12 Stellen für außerordentliche Mitglieder festgesetzt, und ich habe für meinen Theil besonders eine Anzahl Pförtner dafür in Aussicht. Mein nächster Vortrag soll sich auf eine „Theorie der Interpolationen in den Tragikern“ beziehen; es ist, wie ich meine, nützlich, sich über die einzelnen Species der Interpolation klar zu machen, über die Tragweite einer Jeden, besonders über einige Voraussetzungen, über die interpolatorische Thätigkeit der Schauspieler, über das vielbesprochne Staatsexemplar der Tragiker usw.
Sodann habe ich mit Romundt und zwei Pförtner zusammen, die sich alle drei in dem bekannten philologischen Mauserzustande befinden, einen Abend verabredet, an dem wir gemeinsam die Choephor. des Aeschylus lesen und zwar möglichst κριτικῶς. Wir wissen ja aus eigner Erfahrung, wie lästig jener Zustand ist, wo die Endlosigkeit des Studiums und die augenblickliche Erfolglosigkeit des eignen Arbeitens einem zum Bewußtsein kommt: vielleicht kann man da durch gegenseitige Unterstützung sich etwas nützen.
Endlich bin ich auch Mitglied der Ritschlschen Societät und zwar zusammen mit beinahe den meisten ordentlichen Mitgliedern unsres Vereines, so daß diese Institute jetzt mit einander fast Hand in Hand gehen. Dort werden wir die Thesmophoriazusen lesen, auf die ich mich recht freue. Der alte Ritschl ist jetzt wieder bei Kräften, nach dem er längere Zeit am Halse gelitten hat und auch einmal von der Bibliotheksleiter gefallen ist. Er giebt gegenwärtig eine Sammlung seiner Opuscula heraus, von denen der griechische Theil in Kürze erscheinen wird. Man ordnet seine Papiere, wenn man am Ende seines Lebens steht.
Zum Schluß muß ich Dir noch eine besondere Liebenswürdigkeit von ihm erzählen. Du weißt, daß ich mich mit Laertius Diogenes beschäftigt habe und beschäftige, auch mit Ritschl hier und da einmal darüber gesprochen habe. Vor einigen Wochen fragte er mich ganz mysteriös, ob ich wohl, wenn von einer andren Seite eine Aufforderung käme, einmal über die Quellen des Diog. La. schreiben möchte: was ich natürlich mit Freuden bejahte. Vor einigen Tagen erschienen die Preisthematen der Universität, und das erste, auf das mein Auge fällt, lautet „De fontibus Diogenis Laertii.“
Das ist also meine zweite größere Arbeit, die allerdings mehr Umfang hat und mehr Mühe macht als meine Theognisquisquiliae, die aber ungemein fruchtbar gemacht werden kann und alle möglichen Gebiete berührt. In dieser vortrefflichen Weise sorgt Ritschl für mich. Es ist jetzt dadurch wahrscheinlich geworden, daß ich etwa im nächsten Winter, also 1867 hier in Leipzig mein Doktorexamen mache und also erst nachher nach Deinem Berlin kommen kann, um dort auch Deine deliciae, Haupt vornehmlich, genießen zu können.
Sehr dankbar muß ich auch Ritschl dafür sein, daß er mich mit W. Dindorf bekannt gemacht hat, der mich in der wohlwollendsten Weise, ja mit offenen Armen aufnimmt. Meine Aeschylusarbeit hat nach längerer Besprechung mit ihm und Ritschl und nach reiflicher Überlegung mit mir selbst diese Aussichten: die Arbeit erscheint auf Dindorfs consilium, also auch auf seine Verantwortung. Es gilt einen index zu machen, kein kritisches Wörterbuch, für das meine Kräfte schlechterdings nicht ausreichen. Teubner soll mir ungefähr 500— 600 Thl. dafür zahlen, wovon c. 200 in Büchern. Das würden die Bedingungen sein; nicht wahr, sie sind sehr günstig? Die Arbeit ist eine mechanische, aber ich erwarte mir trotzdem Kenntnisse, Bücher und Geld dafür, und vor allem Dindorfs Bekanntschaft und Teubners Verlag. Über alle diese Dinge bitte ich Dich um altum silentium.
So viel ich höre, ist jetzt unser Gersdorff in Berlin und bereitet sich auf sein Offizierexamen vor. Da ich gar nicht weiß, ob er meinen letzten Brief von Anfang Oktober erhalten hat, es auch durch seinen Bruder der wieder in Leipzig ist, nicht erfahren kann, so bist Du wohl so freundlich, ihm meine besten Grüße zu sagen. Er mag allerdings sehr beschäftigt sein.
Auch Du wirst wohl dieses Semester erstaunlich viel zu thun haben: ist es nicht Dein letztes? Für diese überaus peinliche Zeit der Vorbereitung zum Examen wünsche ich Dir Heiterkeit und Gesundheit, vor allem aber eine gewisse Verachtung derartiger Examina, von denen auch Schopenhauer möglichst schlecht denken würde. Wenn ich Dir nur die geringste Gefälligkeit erweisen könnte! Brauchst Du nicht ein Buch oder eine Collation oder irgend etwas? Vielleicht macht Dir ein langer, sehr interessanter Aufsatz von Lachmann geschrieben und nicht gedruckt ,Euphrons Gedanken über das Institut der Philhellenen‘ einigen Spaß, und ich werde mir erlauben, ihn Dir mit den Programmen usw. in Bälde zuzuschicken.
Zum Schluß bitte ich Dich nur noch um recht schnelle Beantwortung der Fragen auf Seite 2., über deren Bedeutung ich Dir später schreibe. Mit den verbindlichsten Empfehlungen an Deine verehrten Eltern und Frau Großmutter verbleibe ich
Dein dankbarer Freund
F. W. N.
NB. Das bedeutendste philosophische Werk, was in den letzten Jahrzehnten erschienen ist, ist unzweifelhaft Lange, Geschichte des Materialismus, über das ich eine bogenlange Lobrede schreiben könnte. Kant, Schopenhauer und dies Buch von Lange — mehr brauche ich nicht.