1866, Briefe 490–534
510. An Wilhelm Pinder in Berlin
Leipzig Elisenstraße 7 Parterre. <5. Juli 1866>
Lieber Wilhelm,
wenn ich genau berichtet bin, so wirst Du Deinen Geburtstag nicht im Feldlager oder in der Garnison, sondern bescheidentlich in Deiner Berliner Studirstube feiern. Einstweilen scheint es mir als ob unsre beiderseitigen Kräfte noch wenig vermißt würden; denn bis jetzt schlagen sich unsre Soldaten eben so tapfer als glücklich; sollte aber das Kriegsglück eine Schwenkung machen, so sind wir beide schwerlich im Stande, es in seinem Willen aufzuhalten. Sodann dienen wir ja auch in unsern Studien dem Vaterlande, das von den Seinen bald dies, bald jenes verlangt, körperliche oder geistige Leistungen. Jeder aber gebe sein Bestes: „denn liebend“ wie Hölderlin sagt, „giebt der Sterbliche vom Besten“. Ergo: ärgern wir uns nicht darüber, daß wir zu Hause hocken, während die waffenfähigen jungen Leute blutbespritzte Ehrenzeichen einhandeln.
Im Ganzen ist das Zuschaun zu solchem Spektakel interessant genug: besonders nachdem die erste Zeit drückender Besorgnisse vorbei ist, nachdem der Krieg Zugwasser bekommen hat und sich mit „affenartiger Schnelligkeit“ wie die Wiener Presse sagt, vorwärtsbewegt. Mein Leben in der preußischen Stadt Leipzig bietet Stoff zu vielen psychologischen Bemerkungen. Die gebildeten Sachsen sind fast unerträglicher als die Masse. Jene nämlich sind im Grunde zu feige, um Partei zu ergreifen mit ihren Sympathien. Sie stellen sich gern auf preußischen Standpunkt, zeigen gern eine gewisse Aufklärung darin, daß sie die Preußen als die unvermeidlichen einstigen Besitzer Sachsens darstellen: denn diese Nothwendigkeit begreifen sie alle. Um so mehr aber reizt sie ihr kleinlicher Geist zu fortwährenden mißgünstigen Blicken auf unsre Erfolge, zu kleinen Verdächtigungen und Detrektationen. Dies Benehmen habe ich schon sehr satt bekommen.
Dagegen haben wir in Leipzig lebenden Preußen alle mit herzlicher Freude empfunden, daß die Schritte unsrer Regierung seit etwa den letzten 6 Wochen unsren unbedingten Beifall haben. Wie ist es zu beklagen, daß dieser so begabte und thatkräftige Minister seiner Vergangenheit viel zu sehr obligirt ist; diese Vergangenheit aber ist eine unmoralische. Daran zweifelt jetzt auch kein Mensch mehr. Man kann nicht das Beste mit schlechten Mitteln erreichen. Das Richtige haben die französischen Zeitungen erkannt, die ihn einen Revolutionär nennen.
Man kann sehr viel in solchen Zeiten lernen. Der Boden, der fest und unerschütterlich schien, wankt; die Masken fallen von den Gesichtern ab. Die selbstsüchtigen Neigungen zeigen unverhüllt ihr häßliches Antlitz. Vor allem aber bemerkt man, wie gering die Macht des Gedankens ist.
Schließlich willst Du vielleicht wissen, was meine Studien machen. Die Collation des römischen codex ist in meinen Händen. Die Pariser wird jeden Tag erwartet. Ich nehme mir sehr viel Zeit. Denn vor Erledigung des Kriegs ist an keine Herausgabe zu denken. Viel Freude erlebe ich an unserem philolog. Verein.
Nun noch eine Anfrage, lieber Wilhelm. Ich habe für meinen Theognis noch manches auf der Berliner Bibliothek zu thun. Dazu wäre es mein Wunsch etwa die letzte Woche des Semesters in Berlin zuzubringen. Könntest Du mich vielleicht logiren? Schreibe mir doch einmal ganz offen Deine Meinung. Ich würde mich sehr darauf freuen mit Dir zusammen einmal eine Woche lang leben zu können: ein Vergnügen, was mir lange nicht mehr zu Theil geworden ist.
Unser Gustav also ist auch Krieger. Gersdorff steht in Spandau als Avantageur. Deussen ist horribile dictu: Theolog in Tübingen.
Bewahre mir auch fernerhin Deine Liebe
Dein treuer Freund F W. N.