1866, Briefe 490–534
524. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg
<Leipzig,> 31 OCTOBER 1866.
Liebe Mama und Lisbeth,
endlich kommt mein Brief und zwar ziemlich inhaltsarm; wenigstens giebt er Euch Gewißheit über mein Leben, wenn ich gleich hoffe, daß Ihr Euch darüber keine Zweifel gemacht habt. Sonst enthält er nichts als was meine Arbeiten betrifft, dergleichen Dinge Ihr zwar nebenbei mit in den Kauf nehmt, aber ungern genug.
Unser Kösener Leben, sowie überhaupt dieses letzte in Eurer Nähe zugebrachte Vierteljahr, ist mir in seiner naiven Harmlosigkeit eine angenehme Erinnerung, vornehmlich deshalb, weil ich gemächlich arbeiten konnte und nicht zu oft mit den unvermeidlichen Vergnügungen der Städter belästigt wurde; als welche in zu engem oder gar gepumpten Fracke einherzugehen pflegen. Hier in Leipzig bin ich wieder in meine alte Ordnung eingetreten oder vielmehr in eine ordentlichere Ordnung als z.B. in diesem Sommersemester, das durch seine kriegerischen Aufregungen auch den Frieden der Studierstube recht unliebsam unterbrach und verwirrte. Besonders bin ich befriedigt darüber, eher hier eingetroffen zu sein als die ganze Schaar der „Musensöhne“ und die alltäglichen Collegien sich wieder bei einander eingefunden haben. Einige meiner näheren Bekannte, wie Windisch, Roscher, Romundt sind auch schon hier, und so vermisse ich auch den Umgang mit Freunden nicht.
Dindorf habe ich einen, Ritschl zwei Besuche gemacht und bin von beiden mit sehr viel Freundlichkeit aufgenommen worden. Ich hoffe, daß die Aeschylusangelegenheit einen guten Gang nimmt und zwar so, daß ich mir nichts Übermäßiges aufbürde und nicht zu viel Verantwortung trage, dabei aber anständig honorirt werde. Wenn Du Dich erinnerst, liebe M., was ich nach Dr. Simons Vorstellung und nach der allgemeinen Sitte von einem Verleger bei dem ersten Werk fordern kann — nämlich gar nichts —, so wird Dir die Summe von c. 500 Thl. ziemlich beträchtlich vorkommen; diese will mir Dindorf bei Teubner durch seinen Einfluß auswirken. Also ungefähr ist der Bogen mit 10 Thl. bezahlt. Dabei ist die Arbeit eine viel leichtere als ich mir vorgestellt hatte und, wie gesagt, auch die Verantwortung ist eine geringere. Einige andre kleinere Arbeiten, wo ich aber mehr mit dem Kopfe leisten muß, als in der Aeschylusarbeit mit der Hand, zeigen sich auch wieder — Dank Ritschl — in der Ferne. Durch die Empfehlung des genannten Mannes habe ich auch jetzt Zutritt zu der Rathsbibliothek Leipzigs und zu ihren zahlreichen Handschriftlichen Schätzen. Dort bin ich oft in den Nachmittagsstunden und vergleiche eben einen Codex des 11ten Jahrhunderts.
Auch die Universitätsbibliothek muß mir täglich Bücher ausspeien, und doch fehlt mir immer so viel. Dindorf verlangt, daß ich eine leidliche Bibliothek besitze dh. er hält es ebenso für nothwendig wie ich selbst. Von Simon habe ich nun Nachricht aus Berlin, werde aber doch nicht auf seine Propositionen eingehen. Nämlich: außer den besagten 60 Thl. jährlich sind immer noch die Zinsen der übrigbleibenden Summe nachzuzahlen, so daß ich zwar 500 Thl. Bücher sogleich bekomme, diese aber in 12 Jahren mit 720 Thl. c. bezahle: was mir doch zu unpraktisch vorkommt, wie ihm übrigens selbst. Dagegen wirst Du, sowie der Vormund nichts dagegen haben, wenn ich mir in Hinblick auf die zu erwerbenden 500 Thl. etwa für 60 Thl. die nötigsten Bücher zulege. Worüber ich nächstens an ihn schreiben werde.
Aus Pforte habe ich noch keine Nachricht: Du wirst mir einen Gefallen thun und einmal an Schenk schreiben: „er möge zu dem Hausverwalter gehen, ihm sagen, daß mir kein Schreiben aus Pforte zugekommen wäre, daß ich zu wissen wünschte, was ich ihm zu schicken hätte, wenn ich das betreffende Stipendium bekommen sollte.“
Zuletzt bitte ich Euch, in Betreff meiner Angelegenheiten gegen jedermann stumm zu sein; auch gegen solche, die zum Theil etwas davon wissen. Ich studiere in Leipzig, und es geht mir leidlich: dies beides ist kein Geheimniß, und Ihr dürft es sagen. Ebenso daß der grünweiße Patriotismus in Sachsen blüht, daß grünweiße und schwarzrothgoldne Fahnen an den Häusern flattern und neulich die ersten sächsischen Truppenzüge von vielen Tausenden auf dem Bahnhofe empfangen wurden. „Jetzt haben wir zwei Könige“ sagt der gemeine, aber aufgeklärte Mann, während andre gemeine ungeklärte Männer schon wieder wedeln und kriechen und Hymnen auf ihren Johann den Seifensieder singen.
Wegen letzterer Äußerung könnte ich übrigens der Majestätsbeleidigung beschuldigt werden. Es lebe der Rautenkranz mit den preußischen Raupen darin!
Euer Friedrich Nietzsche, als Sohn
und Bruder.