1866, Briefe 490–534
498. An Hermann Mushacke in Berlin
<Naumburg, 14. März 1866>
Mein lieber Freund,
Sind es auch heute einige geschäftliche Dinge, die mich zum Briefschreiben nöthigen, so sind es doch nicht diese allein; hier in Naumburg verlangt es mich „abgetrennt von jedem Freunde“ sehr darnach mit Dir einige Gedanken brieflich auszutauschen, die noch vor einer Woche persönlich ausgesprochen wären.
Ich bin thatsächlich etwas einsam, denn Du weißt, daß an solchen Sorgen, wie sie mich jetzt festhalten, viel weniger die Familie als befreundete Studiengenossen theilnehmen können. Dazu ist es mir eine bittre Empfindung, daß wir vorigen Montag, wer weiß, auf wie lange Zeit, von einander geschieden sind: während ich doch fast ein Jahr lang Dir alle meine Kümmernisse und Erquickungen mitgetheilt habe: als welcher Gedanke mich elegisch stimmen kann.
elegisch — Elegie — Theognideische Elegie — so, jetzt bin ich bei meinem abgebrauchten Thema und zwar recht „stichwortmäßig“.
Laß es Dich nicht verdrießen, wenn ich, einstweilen von dieser Monomanie besessen, Dich von diesen Sorgen unterhalte. Also Corssen ist in das Geheimniß gezogen, war sehr erfreut und sehr thätig; wir kletterten stundenlang in der Bibliothek herum. Am andern Tage wurde eine große Kiste von Büchern nach Naumburg geschafft: aber wie viel mir immer noch fehlt, das soll mein heutiger höchst unbescheidner Brief an Dich — und nachher noch einer an Roscher — beweisen. Ich muß Dich wirklich einmal um einen recht mühvollen Weg nach Eurer großen Bibliothek bitten und denke, daß Du Verbindungen hast, um auch einmal mit eignen Augen Dich nach den Dingen umzusehen, die mir so nöthig sind.
Es handelt sich nur um Theognisausgaben; ich gehe von der Voraussetzung aus, daß die Berliner Bibliothek sich durch Vollständigkeit auszeichnet.
Ich bitte also um folgende Ausgaben:
γνωμολογίαι παλαιοτάτων ποιητῶν ed. Turnebus 1553.
Theognis ed. Camerarius c. 1550 mit griechischem Commentar
Theognis ed. Seberus, edit. II, 1620.
Theognidis, Phocylid. etc. gnomica ed. Vinetus
entweder 1543 oder 1569.
Theognis ed. H. Stephanus
Das Jahr weiß ich nicht.
Dann bitte ich Dich mir die Ausgaben zu verzeichnen, die in die Zeit von 1495—1543 fallen; und von einer ,ab Aleandro curata 1512’, wenn es möglich ist, mir das etwaige Vorwort, so weit es sich auf die benutzten Quellen bezieht, abzuschreiben nebst folgenden Stellen v. 122 ψεδνὸς? v. 143 κἀσφέτερον 193 οὖσαν 198 γὰρ μόνιμον, 236 λύειν ὡς πόλεως τείχοι ἁλωσομένης, 284 συνημοσύνη, 285 ἐτέλει, 308 ἕτοιμα.
Um dasselbe bitte ich Dich bei einer editio Iuntina. Ziehe doch den Engelmann zu Rathe, der mir leider nicht zu Gebote steht. Schließlich sieh doch zu, ob Du nicht Kallii specimen novae editionis Theogn. 1766 bekommen kannst, wo am Schluß der Praefatio ein Verzeichniß früherer Ausgaben stehen soll.
Diese Bitten sind, mild bezeichnet, naiv, und doch bin ich in rechter Noth, wenn Du sie mir nicht erfüllst. Ich bin überhaupt in rechten Sorgen, ich benehme mich sicherlich bei diesem ersten opus recht ungeschickt. Aber ich habe keine Uebung in solchen Dingen, ich kann den tiro nicht verleugnen. Einstweilen arbeite ich von früh bis Abend, wie ein Handlanger; wie fern bin ich noch von der wirklichen Ausarbeitung.
Nach dieser elegischen lamentatio versinke ich wieder in die stupide Gefühllosigkeit, an der ich jetzt in Folge meiner philologischen Holzhackerei leide. Von Erholung ist keine Rede, die nächste, auf die ich mich jetzt schon freue, ist — Dein Brief.
Damit grüße ich Dich herzlich
als dein Freund
Fr. W. Nietzsche.
Meine Mutter war erstaunt, daß Du schon Leipzig verlassen hast und hätte Dich gern noch einmal in Naumburg gesehn. Sie läßt Dich bestens grüßen. Sage Deinen lieben Eltern und Deiner Frau Großmutter meine besten Empfehlungen.