1867, Briefe 535–558
554. An Carl von Gersdorff in Berlin
Naumburg <24. November und> 1 Dez. 1867.
Mein lieber Freund,
seltsam! Man besorgt Briefe über Geschäftsdinge und an gleichgültigere Personen weit pünktlicher als an seine vertrauten Freunde. Wie manche Zeile habe ich im Laufe dieses Sommers geschrieben, jede mit dem Bewußtsein, daß es jemanden giebt, der schon lange und suo iure einen ausführlichen Brief meinerseits erwartet. Wie viele Brieffragmente finde ich unter meinen Papieren, einige ganze Seiten, andre nur Überschriften enthaltend; nichts aber ist zu Ende gekommen, weil die Fülle von Arbeiten und Ereignissen das unfertige Blatt wieder durchstrich, und mir die Lust fehlte, Dir obsolete Dinge und Stimmungen zu schildern. Laß mich jetzt im raschen Überblick über jenen Sommer hinwegeilen, damit ich bei der Gegenwart verweilen kann, einer Gegenwart, in die Du Dich hineinfühlen wirst, da Du durchaus Ähnliches durchgelebt hast als ich jetzt erlebe.
Dieser Sommer, der letzte, den ich in Leipzig verlebte — nämlich der zweite — nahm mich kräftig in Anspruch. Du weißt, daß ich mich um das gestellte Preisthema de fontibus Laerti<i> Diogenis bemühte. Dies ist mir auch nach Wunsch gelungen; eine Menge hübscher, zum Theil wichtiger — dh. nach unserm Maßstabe wichtiger — Ergebnisse ist herausgekommen, und zum Schluß kam auch das gehoffte Urtheil der Fakultät. Darf ich Dir einige Zeilen aus dem iudicium Ritschls darüber mittheilen; über die ich mich sehr freue, weil sie mich ermuthigen und auf einer Bahn forttreiben, von der ich mitunter aus Skepticismus abzuweichen in Versuchung bin. Also heißt es nach Angabe meines Namens und meines Mottos (γένοι᾽οἷος ἐσσί): ‚ita rem egit ut Ordinis expectationi non tantum satis fecerit, verum eam superaverit. Tanta enim in hac commentatione cum doctrinae e fontibus haustae copia tum sani maturique iudicii subtilitas enitet, coniuncta ea cum probabili et disserendi perspicuitate et dicendi genuina simplicitate, ut non modo insigniore laude scriptoris indoles et industria dignae videantur, sed plurimum emolumenti in ipsas litteras, philosophorum potissimum Graecorum historiam et plenius et rectius cognoscendam, ex illius opera redundare existimandum sit —‘; als welches Unheil vor dichtgedrängter Aula bekannt gemacht wurde. Leider konnte ich nicht anwesend sein; was mich um so mehr schmerzte als der philologische Verein mir, seinem Gründer und Expräsidenten, ein συμπόσιον bei Simmer veranstalten wollte, zu dem auch Vater Ritschl sein Kommen zugesagt hatte. — Jene Arbeit beschäftigte mich bis in den Anfang des August hinein; sobald ich los und ledig war, flog ich mit Freund Rohde in den böhmischen Wald, um in Natur, Berg und Wald die müde Seele zu baden. An dieser Stelle muß ich einiges über Rohde sagen, der ja auch Dir aus einer frühen Zeit her bekannt ist. Wir haben beide diesen Sommer fast immer zusammen gelebt und eine seltne Zusammengehörigkeit unter uns empfunden. Daß auch über diesem Freundschaftsbunde der Genius des Mannes schwebte, dessen Bild mir Rohde noch vor wenig Wochen aus Hamburg schickte, Schopenhauers, versteht sich von selbst. Du wirst, wie ich mir denke, darüber eine lebhafte Freude empfinden, daß gerade solche starke und gute Naturen, wie Rohde im besten Sinne ist, von jener Philosophie gepackt werden
Wieder ist eine Woche vergangen, wieder ist es Sonntag, jetzt der einzige Tag, der mir zur Erfüllung meiner Briefpflichten übrig bleibt. Um aber ungefähr in dem Gedankenkreis zu bleiben, in dem ich mich vor 8 Tagen befand, erzähle ich Dir von anderem Einflusse Schopenhauers. Da sind es zwei schriftstellerische Leistungen, eine wissenschaftliche und ein Roman, die unter diesem Gestirn geboren sind. Vielleicht hast Du schon von dem Buche gehört, das sich also betitelt „Bahnsen, Beiträge zur Charakterologie.“ Dies ist ein Versuch, die Charakterkunde zur Wissenschaft umzubilden; da dies auf Schopenhauerscher Basis und mit viel Liebe zum „Meister“ geschieht, außerdem auch wirklich viel gute Gedanken und Beobachtungen in diesem zweibändigen Werke stecken: so empfehle ich es Dir sowie allen Eingeweihten jener offenbaren und doch verborgenen Weisheit. Am wenigsten bin ich mit der Form zufrieden: der Verfasser überhastet seine Gedanken und verdirbt dadurch die Linie der Schönheit. — Der Roman, von dem ich nun reden will, ist das erste Erzeugniß einer Dichtung in jenem tragischen, fast asketischen Sinne Schopenhauers, ein Buch, dessen Helden durch die rothe Flamme des Sansara hindurchgetrieben werden zu jenem Umschwung des Willens, dabei eine Dichtung voll des höchsten Kunstwerthes, einer großartigen Fülle von Gedanken und im schönsten liebenswürdigsten Stile geschrieben. Das ist der letzte Roman Spielhagens „in Reih und Glied“ betitelt; von dem man wenig liest, weil sein Verfasser zu stolz ist, einer Clique sich anzuschließen, wie sie zB. Freitag besitzt. Mein Lehrer Ritschl urtheilt, daß dieser letzte Roman zehnmal so viel werth sei wie der ganze Freitag.
Zu dritt erzähle ich Dir von einem Ereigniß, mit dem Schopenhauer auch im fernen Zusammenhange steht, wenn er auch nicht, wie gutbesoldete Schulräthe behaupten, Ursache desselben ist. Es ist der unglückliche Selbstmord Kretzschmers in Schulpforte. Die Gründe sind thatsächlich nicht bekannt oder werden gut verschwiegen. Etwas Räthselhaftes liegt darin, daß der vortreffliche gewissenhafte Mensch sich ein Vierteljahr vorher noch verlobt hat und auf diese Weise noch ein junges Mädchen unglücklich macht. Daß er Anhänger Schopenhauers war, weißt Du: und noch das letzte Mal, als wir beide zusammen in Almrich waren, sprachen wir miteinander über Schopenhauers Auffassung des Selbstmordes.
Doch jetzt kehre ich zurück zur Erzählung meiner Erlebnisse: die Nachricht von jenem Tode ereilte mich in Meiningen, wo ich die letzten Tage meiner Böhmerwaldreise zubrachte. Dort war nämlich ein großes viertägiges Musikfest von den Zukünftlern veranstaltet, die hier ihre seltsamen musikalischen Orgien feierten. Abbate Liszt präsidirte. Diese Schule hat sich jetzt mit Leidenschaft auf Schopenhauer geworfen. Eine symphonische Dichtung von Hans von Bülow, „Nirwana“ enthielt als Programm eine Zusammenstellung Schopenhauerscher Sätze; die Musik war aber fürchterlich. Dagegen hat Liszt selbst in einigen seiner Kirchencompositionen den Charakter jenes indischen Nirwana vortrefflich gefunden, vor allem in seinen „Seligkeiten“ „beati sunt qui etc.“
Nach diesen Wochen der Erholung und des reinsten Naturgenusses trieb mich ein wohlmeinender Dämon dazu, mich in Naumburg mit Eifer über ein neues philologisches Thema herzumachen „über die unechten Schriften Demokrits“. Diese Arbeit ist bestimmt für einen Cyklus von Aufsätzen, welche zusammen im nächsten Jahre Ritschl dedicirt werden sollen. Ich habe nämlich in Leipzig noch in den letzten Tagen meines Dortseins die Idee angeregt, daß seine speziellen Leipziger Schüler — natürlich mit genauer Auswahl — ihrem Lehrer auf diese Weise ihre Verehrung ausdrücken. Dazu sind gewonnen Rohde, Roscher, Windisch, Clemm und noch 4 andre, die Du nicht kennst. Darauf feierte ich in Halle jene Philologenversammlung mit — und das Verhängniß kam.
Jetzt bin ich nämlich Kanonier und zwar in der 2t. reitenden Abtheilung des Feldartill.Reg N. 4.
Wie überraschend dieser Umschwung war, wie gewaltsam ich meinem gewöhnlichen Treiben und bequemen Dahinleben entfremdet wurde, wirst Du leicht nachfühlen. Trotzdem ertrage ich diese Veränderung gefaßten Muthes und empfinde sogar an diesem Streiche des Schicksals ein gewisses Behagen. Jetzt bin ich erst unserm Schopenhauer recht dankbar geworden, jetzt wo ich Gelegenheit habe, etwas aoxriat zu treiben. In den ersten 5 Wochen hatte ich auch noch den Stalldienst durchzumachen: morgens um 5½ Uhr war ich im Pferdestall, um Mist hinaus zu schaffen und das Pferd mit Striegel und Kardätsche zu putzen. Jetzt ist mein Dienst durchschnittlich derart, daß ich von 7—½ 11 und von ½ 12—6 Abends beschäftigt bin und zwar den größten Theil dieser Zeit mit Fußexercieren. Vier mal in der Woche haben wir beiden Einjährigen Vortrag bei einem Leutnant als Vorbereitung zum Landwehroffizierexamen. Du wirst wissen, daß man als reitender Artillerist erstaunlich viel zu lernen hat. Das meiste Vergnügen machen mir die Reitstunden. Ich habe ein sehr hübsches Pferd und soll auch Talent zum Reiten besitzen. Wenn ich mit meinem Balduin auf dem großen Exercirplatz herumsause, so bin ich mit meinem Geschick sehr zufriedengestellt. Die Behandlung, die mir zu Theil wird, ist im Ganzen eine vortreffliche. Vor allem haben wir einen angenehmen Hauptmann.
Ich habe Dir von meinem Soldatenleben erzählt: hier liegt der Grund, weshalb ich so außerordentlich spät dazu komme, Dir Nachricht und Antwort auf Deinen letzten Brief zu geben. Unterdessen wirst Du wahrscheinlich, wie ich mir denke, der militärischen Fesseln ledig geworden sein. Weshalb ich es für bedenklich halte, meinen Brief nach Spandau zu adressieren.
Schon aber ist meine Zeit vorüber; ein geschäftlicher Brief an Volkmann, sowie ein andrer an Ritschl haben uns schon Zeit geraubt. Jetzt muß ich schließen, um zum Appell mit vollem Zeug mich fertig zu machen.
Also, lieber Freund, verzeih mir meine lange Fahrlässigkeit und schiebe dem Kriegsgotte den besten Theil der Schuld zu.
In treuer Gesinnung
Dein Freund
Friedrich Nietzsche
Kanonier.