1867, Briefe 535–558
538. An Carl von Gersdorff in Spandau
<Leipzig, 20. Februar 1867>
Lieber Freund,
wenn Du nicht in der Stimmung bist, eine Anzahl von seltsamen Dingen anhören zu können, so lege den Brief bei Seite und verspare ihn Dir für eine andere Stunde.
Heute war nämlich die große Leipziger Wahlschlacht, die Entscheidung eines mit allen Mitteln geführten Parteienkampfes, heute ist das Schlußwort in der Sache Stephani gegen v. Wächter gesprochen worden. Wie es ausfiel, will ich noch nicht verrathen.
Du kennst das Ergebniß der ersten Wahl: unser Vertreter, der vortreffliche, makellose vir strenuus Stephani (neuerdings St. Stephan in den Inseraten des Tageblattes genannt) siegte mit 1000 Stimmen über den Hort des sächsischen Particularismus Herrn v. Wächter: jedoch war dieser Sieg nicht ausreichend, es fehlte an c. 200 Stimmen an einer absoluten Majorität. Also mußte eine engere Wahl vorgenommen werden, bei der die Kämpen einer dritten und einer vierten Partei Würkert und Wuttke gar nicht mehr in Betracht kamen. Diese beiden sind also recht jämmerlich durchgefallen, am meisten Wuttke, genannt „das Reichswiesel“, der von einer sogenannten Volkspartei, im Grunde von den tollsten Preußenfressern auf den Schild gehoben war und mit c. 300 Stimmzetteln von demselben wieder herunterfiel. Das Organ dieser schwarzgelben Färbung ist die „Sächsische Zeitung“, ehedem „Abendpost“.
Würkert, groß, wie das Tageblatt sagt, als Bierwirth, Mensch, Gefangener, Dichter, Redner, wurde von den Lasalleanern in der 12ten Stunde aufgestellt und mit einer solchen Fluth von Reklame aufgeschwemmt, daß er selbst an seiner Wahl nicht zweifelte. Ihm zu Ehren wurde eines Sonntags um 11 Uhr eine Volksversammlung unter freiem Himmel veranstaltet, die nach mäßiger Berechnung von 12000—15000 Menschen besucht wurde. Er hielt mit vortrefflichem weit tönenden Organ, mit antiker Schwenkung seines Kutschermantels eine Wahlrede, mit kräftigen Worten über höchst unkräftige und unreale Dinge zB. über einen europäischen Arbeiterstaat, ließ sodann über seine Wahl abstimmen und erklärte, daß er gegen 4 Stimmen von der ganzen Versammlung gewählt sei. Dies war eine optische Täuschung: denn am Tage der Wahl hatte er c. 900 Stimmen für sich.
Jetzt kam alles auf die durchgefallnen Parteien und ihre neue Stellung an. Die Agitation wurde wirklich großartig, wo man gieng oder stand, drückte einem ein Dienstmann ein Programm, ein Pamphlet, eine Ermahnung in die Hand, selbst in das Haus wurden die Zettel getragen: das Tageblatt und die Nachrichten strotzten von Annoncen.
Ich glaube nicht, daß ein Gesichtspunkt noch übrig ist, aus dem Agitationsblei noch zu schmelzen wäre. An Übertreibungen fehlte es nicht z.B. wurde Wächter ein alter Mann genannt, dessen Gehirn nach Bock einen Stoffwechsel durchgemacht habe und der deshalb nicht mehr politisch fähig sei. Oder man benutzte eine Rede Stephanis, worin er versprach, als Vicebürgermeister seinen Verpflichtungen nachzukommen, aber eine Wahl, wenn sie auf ihn ohne sein Zuthun fallen würde, annehmen zu wollen, und ließ den 2ten Satz weg, so daß es scheinen mochte als ob Stephani eine Wahl ablehne. Kurz moralische und unmoralische Mittel, Stempel, Dienstmänner, Verleumdungen, riesige Maueranschläge, Fahnen mit den betreffenden Namen, alles war in Bewegung gesetzt — für den heutigen Tag.
Dieser war trübe und nebelig. An den Wahlstätten lagerten müssige Volksschichten, flatterten die Fahnen, knarrten die Stempelpressen, strahlten in bunten Farben die Plakate. Nachmittags giengen wir zu drei in das Rosenthal und kamen auf den Einfall, das Orakel über den Ausgang zu befragen. Nach allen nur denkbaren Versuchen gab es immer ein Resultat: wenn ein Rabe krächzend flog, wenn wir fragten, ob Mann oder Weib zuerst uns begegnen würden, ob eine aufrecht geworfne Münze die Bildseite zeige u.s.w. immer antwortete uns der „Zufall“ ..„Wächter“; was uns in heitre Stimmung brachte, so daß wir einen jungen Philologen, der uns begegnete, mit unsrer Orakelweisheit zu bethören suchten und ihm sagten, daß Wächter gewählt sei.
„Weiß schon, sagte das Unglückskind, mit 1000 Stimmen Majorität.“
Und so ist es. Inzwischen hat sich die Wächtersche Partei um 2000 Stimmen vermehrt. Wir sind unterlegen. Der Vetter triumphirt, der Particularismus schwingt die Fahne des Siegs.
Nun einiges Persönliche. Denn politische Dinge möchte ich nicht berühren — aus begreiflichen Gründen. Einstweilen also bleibe ich noch hier und zwar denke ich dabei sowohl an das nächste als das nächstfolgende Semester. Im Grunde bin ich sehr wenig genirt, (wenn mich nur der Kriegsstand nicht noch genirt!) lebe ein behagliches Dasein, so weit dies in einer solchen Welt möglich ist, habe gute Freunde und getreue Nachbarn und gute Lehrer, sitze täglich bei Kintschy mit Kohl und Rohde zusammen, die jetzt meinen nächsten Umgang bilden, bin für unsern philologischen Verein nach Kräften thätig, kaufe mir sehr viel philologische Bücher, finde ab und zu einen leidlichen Gedanken und arbeite etwas unruhig. Thematen, die mich beschäftigen, sind
„de Laertii Diogenis fontibus“
„über die Büchertitel bei den Alten,“
im Hintergrunde schwebt ein Plan zu einer kritischen Geschichte der griech. Litteratur. Wenn ich Dir eine Lektüre empfehlen darf, die Dich zugleich an das Alterthum fesselt und an Schopenhauer erinnert, so nimm einmal die epistulae morales des Seneca vor.
Schließlich kommt das, was den Anfang meines Briefes hätte machen sollen, mein Dank für Deinen lieben Brief, den ich aus meheren Gründen ganz besonders schätze. Erstens weil weder ich, noch irgend Jemand von Dir jetzt Briefe erwartet, da wir vielmehr erfreut und dankbar sind, wenn Du nur Lust und Stimmung hast, unsere Briefe zu lesen. Zweitens aber war mir besonders Dein Bekenntniß zu unserm Philosophen lieb und werth, da es in einer Zeit ernster und schwerer Erfahrungen, entscheidender Schicksalsschläge gesprochen worden ist.
Fromme Menschen glauben, daß alle Leiden und Unfälle, die sie treffen, mit genauester Absichtlichkeit auf sie berechnet sind, so daß der und jener Gedanke, dieser gute Vorsatz, diese Erkenntniß in ihnen geweckt werden sollte. Uns fehlen zu einem solchen Glauben die Voraussetzungen. Wohl aber steht es in unsrer Gewalt, jedes Ereigniß, kleine und große Unfälle für unsre Besserung und Tüchtigung zu benutzen und gleichsam auszusaugen. Die Absichtlichkeit des Schicksals des Einzelnen ist keine Fabel, wenn wir sie also verstehen. Wir haben das Schicksal absichtlich auszunützen: denn an und für sich sind Ereignisse leere Hülsen. Auf unsre Verfassung kommt es dabei an: den Werth, den wir einem Ereigniß beilegen, hat es für uns. Gedankenlose und unmoralische Menschen wissen nichts von einer solchen Absichtlichkeit des Schicksals. An ihnen haften eben Ereignisse nicht. Wir aber wollen aus ihnen lernen: und jemehr sich unser Wissen in sittlichen Dingen mehrt und vervollständigt, um so mehr werden auch die Ereignisse, die uns getroffen haben, einen festgeschlossnen Kreis bilden oder vielmehr zu bilden scheinen. Du weißt, lieber Freund, was diese Reflexion soll.
Heute nehme ich von Dir Abschied, indem ich noch Einsiedels, meines Vetters, sowie auch meiner Mutter theilnehmende Grüße verzeichne.
Dein treuer Freund Friedrich N.