1867, Briefe 535–558
541. An Hermann Mushacke in Berlin
Naumburg zwischen Charfreitag und Ostern. <20. April 1867>
Mein lieber Freund,
ich habe immer gemeint, daß eine Freundschaft auch ohne einen regelmäßigen Briefwechsel bestehen kann: vorausgesetzt daß es eine wahre und echte ist. Denn so lange man fest empfindet, daß man seinen Freund nicht vergessen hat und nicht vergessen wird, ist es eigentlich unnöthig ihm dies zu schreiben. Somit schreiben Freunde unter einander sich nicht deshalb Briefe, um das Gewächs ihrer Herzensverbindung mit frischem Wasser zu begießen, sondern zunächst zu einem viel äußerlicheren Zwecke: sie erzählen von ihren Schicksalen, ihren Arbeiten, ihren Aussichten, sie verändern also nur die Coulissen, während sie wissen, daß auch im Wechsel der äußeren Umgebung ihre Freundschaft fortdauert. Wer nun zufällig ohne wichtige Veränderungen eine Strecke Lebenszeit dahinlebt, hat auch keinen Zwang und keine Aufforderung an seine Freunde darüber zu schreiben.
Es thut mir herzlich leid, daß Du Dir einen Augenblick eine so ungünstige Meinung von meiner Freundschaft gebildet hast, als ob ohne einen Brief von Deiner Seite im Zeitraum von zwei, drei Monaten dieselbe erloschen wäre. Ich habe mir eine Nachlässigkeit ganz andrer Art zu Schulden kommen lassen: ich hatte Dir von Brief zu Brief die Lachmannsche Abhandlung versprochen und durch eine mir unbegreifliche Zerstreutheit beim Abschicken des Briefes immer vergessen, was ich versprochen hatte, so daß ich mir ernstliche Vorwürfe machte und mir wiederholt sagte, „das Nichtschreiben Deines Freundes Mushacke ist eine gerechte und gesunde Strafe für diese Zerstreutheit.“ Wenn also einer von uns beiden eine Veranlassung hat, sich zu entschuldigen, so bin ich es: als was ich auch hiermit aus vollem Herzen thue.
So hoffe ich denn, daß hiermit, lieber Freund, jede Spur einer unbequemen Empfindung gegen mich in Dir getilgt ist und wende mich zur Aufzählung meiner „Schicksale, Arbeiten und Aussichten“, mit denen ich Dich, vielleicht über Gebühr, in so manchem Briefe in Ermangelung besseren und edleren Stoffes abgespeist habe.
Ich sitze hier im behaglichen Neste Naumburg und bin nicht unbeschäftigt. Aber mein Wunsch zu arbeiten ist in diesen Wochen größer gewesen als mein Vermögen, kurz ich bin bis jetzt unzufrieden mit den Ergebnissen der letzten Wochen. Was ich beabsichtige meine Arbeit de fontibus Laertii niederzuschreiben, liegt noch im weiten Felde; alles was fertig ist umfaßt noch nicht drei Druckbogen. Ich stolpere nämlich am allermeisten über ein kaum früher beachtetes Hinderniß; ich habe nämlich im Deutschen schlechterdings keinen Stil, obgleich den lebhaften Wunsch einen zu bekommen. Da ich mir nun vorgenommen habe meine Laert.studien mit aller Sorgfalt erst deutsch auszuarbeiten, bevor ich den lateinischen Auszug daraus mache, bin ich auch genöthigt auf diese Stilfragen einzugehen. Als Gymnasiast schreibt man bekanntlich keinen Stil; als Student hat man nirgends Übung; was man schreibt, sind Briefe, somit subjektive Ergüsse, die keinen Anspruch auf künstlerische Form machen. Also kommt einmal eine Zeit, wo uns die tabula rasa unsrer stilistischen Künste ins Gewissen steigt. So ergeht mirs jetzt und daher kommt es, daß ich sehr langsam arbeiten muß.
Den nächsten Sommer werde ich wieder in Leipzig zubringen, da ich mich jetzt kaum noch von Ritschl losreißen kann. Das wirst Du einigermaßen nachfühlen können. Dazu quält mich immer der Gedanke, daß es in Kurzem einmal zu Ende sein kann; er ist in letzterer Zeit öfter und schwerer krank gewesen. Ich kann Dir nicht ausdrücken, was ich an ihm verlieren würde.
Im Herbst möchte ich mir den Titel eines Doktors aneignen; ich denke mit einer Abhandlung de Homero Hesiodoque coaetaneis. Wenn Du bei dieser Überschrift lächelst, so hast Du ein Recht dazu. Über alle meine persönlichen Verhältnisse bitte ich Dich vor meinen etwaigen Bekannten, mit denen Du zusammentriffst, Stillschweigen zu bewahren; es ist nichts lästiger als Hoffnungen zu erregen und schließlich Lügen zu strafen. Wer aber bürgt für seine nächste Zukunft? Ich habe noch so viel abenteuerliche Pläne, daß ein ganzer Theil derselben ins Wasser fallen muß.
Jetzt kommt etwas worüber Du Dich freuen wirst. Ich habe die besten Nachrichten von Freund Deussen, der in Bonn seit vorigem Herbst seinen philologischen Studien mit gutem Erfolge obliegt und der sich dabei auf festem Boden fühlt. Alles was er über seine Arbeiten schreibt macht einen gesunden und frischen Eindruck: wie weit er anders geworden ist, wirst Du am besten beurtheilen können, wenn er in einigen Wochen Dich in Berlin heimsucht. Dort nämlich gedenkt er ein Jahr lang zuzubringen.
Wenn Du einmal an mich nach Leipzig einen Brief schreibst, wohin ich am 30 dieses Monats wieder abgehe, so bemerke als Addresse „Weststraße“ Nr. 59, 2 Treppe. Du hast ja in demselben Hause, nur etwas höher gewohnt. Du kannst Dir also recht lebhaft vorstellen, wo ich diesen Sommer zubringen werde. Ich wohne in der Stube, die früher der „Baron“ Gott weiß welches Namens inne hatte.
Sonst geht alles in Leipzig vortrefflich. Vor allem gefällt mir unser philologischer Verein, der übrigens von Semester zu Semester einige Mitglieder verliert, die dann nach Berlin gehen. Unsre Zuhörerzahl ist immer größer geworden, unsre Debatten haben einen strengeren Charakter erhalten, unsre Ansprüche an die Aufzunehmenden sind immer gewachsen. Wir haben jetzt auch zwei Sprachvergleicher und sind froh, von dieser species zwei gute Exemplare für unsre Menagerie bekommen zu haben. Wenn Du Bekannte hast, die es riskieren einmal auf ein Semester als Philologen nach Leipzig zu kommen, so gieb ihnen meine Addresse; denn ich bin allmählich genug in Leipzig eingebürgert, um Neuankommenden gute Auskunft geben zu können.
Soviel ich weiß, willst Du in der nächsten Zeit Dein Staatsexamen machen. Kannst Du mir nicht einmal die Anforderungen, die Du zu diesem Zwecke an Dich selber stellst, kurz notieren, damit ich daran einen Maßstab habe, wenn ich auf den Gedanken käme mir irgendwann ein ähnliches „Vergnügen“ zu gestatten? Heute lebe recht wohl und sei sammt Deinen verehrten Angehörigen auf das herzlichste gegrüßt
von Deinem alten Freunde
F. N.