1867, Briefe 535–558
539. An Paul Deussen in Bonn
<Naumburg,> 4 April 1867.
Mein lieber Freund,
als ich Deinen vorletzten Brief von Naumburg aus geschickt bekam, hatte ich sehr angenehme Empfindungen. An demselben Morgen hatte ich schon andre Briefe bekommen und sonst Dinge erlebt, ich weiß nicht mehr was, die mich sehr glücklich stimmten. Ich hatte einen glücklichen Tag, aber das Hauptereigniß war für mich Dein Brief oder vielmehr die Nachrichten, der Ton, die Hoffnungen, die Entschlüsse Deines Briefes. Allerdings lachte ich mich im Stillen aus, daß ich noch vor wenig Tagen an eben denselben Menschen, der so zuversichtlich, sicher und auf festen Boden gestellt an mich schreibt, eine lange Epistel voller Wünsche und Aufforderungen geschickt hatte. Dieser Brief war an ein Phantom gerichtet: mein heutiger gilt endlich wieder dem Menschen, dem lieben Freunde und Philologen, der sich selbst und sein Studium wiedergefunden hat, der aus dem Irrgarten theologischer Scrupel zurückgekehrt ist, um seine Hochzeit mit der Philologia zu feiern. Jener liebe Freund hat mir auch schon in seinem letzten Briefe die glückliche Entbindung seiner Frau mitgetheilt, so daß über das Glück jener Ehe gar kein Zweifel sein kann.
Wirklich, lieber Paul, selbst wenn Deine Briefe nicht so viel Verführungen und Lockungen meiner Eitelkeit enthielten, wenn ihr ganzer Inhalt in den Satz zusammengefaßt wäre „ich bin Philologe, arbeite das und das und bin zufriedner als je“ so würden sie für mich auch dann die liebsten Genüsse und erhebendsten Freuden sein, die ich kenne. Der Gedanke ist mir all zu wohlthuend, nicht mehr zwischen uns hebräische Nebel zu haben, die uns verhindern, in rechter Gedankengemeinsamkeit mit einander durch das Leben zu gehen.
Heute nun erfülle ich zunächst Deinen Wunsch und schreibe ein philologisches Billet. Das Lexicon von W. Bötticher ist für Dich unentbehrlich, weil es 1 Artikel besitzt über den Ablativus mit sehr schätzbaren und reichen Zusammenstellungen; wenn man auch die Citate immer erst prüfen muß, da die Collationen, denen Böttiger folgte, nichts taugten. Aber es muß auch noch Spezialarbeiten über den Taciteischen Ablativ geben, Gott weiß aber wo. Ich habe leider keine bibliographischen Handbücher. Über den Genetiv hat gut gehandelt ein gewisser Zernial. Sehr nützlich soll eine Arbeit von Dräger sein „die taciteische Syntax.“ Auch vom Dr. Schmidt in Jena, dem Schildknappen Lucian Müllers, ist ganz kürzlich eine Schrift über syntaktische Eigenheiten des Tacitus erschienen, die sehr gerühmt wird. Autorität in solchen Fragen scheint übrigens E. Wölflin in Winterthur zu sein, der vor Kurzem im Philologus einen Jahresbericht über derartige Fragen gab. Darin hat mir besonders der Nachweis gefallen, daß derartige Sammlungen streng nach der chronologischen Folge der Taciteischen Schriften angelegt werden müssen, weil der usus des Tacitus sich in vielen kleinen Dingen verändert hat. Jedenfalls stehst Du, lieber Freund, mit solchen Untersuchungen auf einem gefährlichen Terrain, weil Du nach sehr viel Anstrengung plötzlich die Entdeckung machen kannst, daß Deine Mühe unnütz, wenigstens für die Wissenschaft, war. Wenn ich Dir aber einen Schriftsteller nennen darf, wo derartige schätzenswerthe Einzeluntersuchungen noch nicht einmal begonnen sind, so meine ich Ammian Marcellin. Ebenso ergebnißreich, denke ich, werden Ablativstudien im Apuleius sein. Welche Erweiterungen des Ablativgebrauchs verschaffte sich doch die afrikanische Latinität? Ich weiß nichts davon und kenne auch niemanden, der dieses Gebiet irgendwie innehat.
Da Du zu Deinen andern Studien auch den Photius benutzt hast, so wird bei Dir wohl etwas Interesse für dessen βιβλιοθήκη hängen geblieben sein. Hier haben wir wirklich eine vernachlässigte Provinz. Ich weiß nicht ob die Textkritik hier noch viel zu thun hat, aber ich glaube es (vielleicht ist in eben jenem cod. 176 statt τἠν τε ἕκτην καὶ ἑβδόμην καὶ δὴ καὶ τὴν ἐνάτην scil. διαπεπτωκέναι ἔφησάν τινες zu schreiben ἑβδόμην καὶ ὀγδόην καὶ κτλ. Es ist wohl ein τεῦχος von 4 Büchern verloren gegangen) Doch das meine ich nicht. Es läßt sich aber sehr viel aus den bibliographischen Angaben des Photius schließen und lernen. Die Gelehrsamkeit, die er mitunter zeigt, wird entweder aus den Prologen der Bücher selbst stammen oder sie ist nachweisbar aus einem früher beschriebenen Buche entnommen. So mache ich Dich auf eine Stelle aus der Beschreibung der ἐκλογαὶ Sopaters aufmerksam cod. 161 p. 177 H. Hier scheint die Quelle zu sein für seine Kenntnisse über Lebensumstände der Redner die zumeist wörtlich mit der pseudoplutarch. Schrift de decem orat. vit. stimmen. Daraus ist nur zu lernen, daß schon Sopater nicht mehr den Verfasser jener Schrift kannte, die Schäfer mit Sicherheit dem Plutarch abspricht.
Doch wir haben Wichtigeres zu thun als über Photios zu sprechen. Zunächst vernimm, daß ich nicht von Leipzig fortgehe, daß also ein gemeinsamer Berliner Aufenthalt einstweilen zu den Unwahrscheinlichkeiten gehört.
Du glaubst nicht, wie persönlich ich an Ritschl gekettet bin, so daß ich mich nicht losreißen kann und mag. Dazu habe ich immer die traurige Empfindung, daß allzu lange sein Leben nicht mehr hingesponnen wird; ich fürchte es geht einmal schnell zu Ende. Du kannst nicht ahnen, wie dieser Mann für jeden Einzelnen, den er lieb hat, denkt, sorgt und arbeitet, wie er meine Wünsche, die ich oft kaum auszusprechen wage, zu erfüllen weiß und wie wiederum sein Umgang so frei von jenem zopfigen Hochmuth und jener vorsichtigen Zurückhaltung ist, die so vielen Gelehrten eigen ist. Ja, er giebt sich sehr frei und unbefangen, und ich weiß, daß solche Naturen sehr oft anstoßen müssen. Es ist der einzige Mensch, dessen Tadel ich gern höre, weil alle seine Urtheile so gesund und kräftig, von solchem Takte für die Wahrheit sind, daß er eine Art wissenschaftliches Gewissen für mich ist.
Also: ich bleibe noch etwas in seiner Nähe. Meine Aussichten in die Zukunft sind unbestimmt, somit ziemlich günstig. Denn nur die Gewißheit ist schrecklich. Mein Bestreben geht dahin mir jährlich auf eine ehrenhafte und wenig Zeit raubende Weise ein paar hundert Th. zu erwerben, damit mir aber für eine Reihe von Jahren die Freiheit meiner Existenz zu wahren. Z. B. will ich gern etwa im Anfang nächsten Jahres nach Paris gehen und dort ein Jahr an der Bibliothek arbeiten. Doch das wird Dich nicht interessiren, mehr vielleicht, was und wie ich jetzt arbeite. Denn daß man in Briefen an Freunde von sich und seinen Erfahrungen spricht, ist nicht nur zulässig, sondern auch wünschenswerth. Briefe sind eben subjektive Stimmungsbilder.
Meine Laertiusarbeit wird in diesen Wochen niedergeschrieben. Mein Bestreben ist diesmal, das logische Grundgerippe nicht so sichtbar durchblicken zu lassen, wie dies in meiner mitfolgenden Theognisstudie der Fall ist. Dies ist übrigens sehr schwer. Wenigstens für mich. Ich möchte derartigen Dingen ein etwas künstlerisches Kleid geben. Du wirst meinen Eifer lächerlich finden, mit dem ich Farben reibe, überhaupt mich anstrenge, einen leidlichen Stil zu schreiben. Aber es ist nöthig, nach dem ich mich so lange vernachlässigt habe. Sodann vermeide ich möglichst streng die Gelehrsamkeit, die nicht nöthig ist. Das kostet auch manche Selbstüberwindung. Denn manches superfluum muß hinweggeschnitten werden, das uns gerade sehr gefällt. Eine strenge Exposition der Beweise, in leichter und gefälliger Darstellung, womöglich ohne jeden morosen Ernst und jene citatenreiche Gelehrsamkeit, die so billig ist: das sind meine Wünsche. Das Schwerste ist immer, den Gesammtconnex von Gründen, kurz den Riß des Gebäudes zu finden. Dies ist eine Arbeit, die im Bett und auf Spaziergängen sich oft besser macht als am Studirtisch. Das grobe Material zusammen zu schaffen ist eine freundliche Arbeit, ob sie gleich oft etwas Handwerkmäßiges hat. Aber die Erwartung des endlich sich enthüllenden Zauberbildes hält uns munter. Am peinlichsten ist mir die Ausarbeitung, und hier reißt mir sehr oft die Geduld.
Jede größere Arbeit, das wirst Du auch empfunden haben, hat einen ethischen Einfluß. Das Bemühen, einen Stoff zu concentriren und harmonisch zu gestalten, ist ein Stein, der in unser Seelenleben fällt: aus dem engen Kreise werden viele weitere.
Kannst Du mir nicht einmal ganz offen schreiben, lieber Freund, wie viel Du zu Deiner jährlichen Existenz brauchst? Willst Du wirklich so schnell wie möglich und mit beiden Füßen zugleich in das Schulamt hineinspringen? Ich habe den entgegengesetzten Wunsch: möglichst lange von solchen äußeren Fesseln frei zu sein. Überhaupt bin ich sehr abgeneigt, mich wie eine Maschine mit Kenntnissen zu überladen. Vielleicht studirst Du auch etwas zu viel. Das Liebste ist mir einen neuen Gesichtspunkt zu finden und mehere und für diese Stoff zu sammeln. Mein Gehirnsmagen ist ärgerlich über jede Überfüllung. Vieles Lesen stumpft den Kopf entsetzlich ab. Die meisten unsrer Gelehrten würden auch als Gelehrte mehr werth sein, wenn sie nicht zu gelehrt wären. Speise nicht zu starke Mahlzeiten.
Das Berliner Seminar taugt wenig. Ich habe über dasselbe genaue Mittheilungen von einem unsrer ehemaligen Vereinsmitglieder, der diesem Seminar jetzt angehört. Die Behandlung der Studenten ist sehr grob.
Lieber Freund, überlege Dir einmal folgendes. Du willst nach Berlin gehen und kommst also über Naumburg. Hier besuchst Du mich und theilst mir Deine Gedanken über folgenden Vorschlag mit. Ich kann Dir eine Arbeit, die nebenbei, täglich etwa 2 Stunden gethan werden kann, zuweisen, die Dir einige Hunderte Thl. erwirbt. Bedingung ist, daß sie in Leipzig gemacht wird. Sie beschäftigt Dich ein halbes Jahr. Du lernst mancherlei dabei. Was Dich sonst in Leipzig erwartet, weißt Du. Ein Jahr in Berlin des Examens wegen zuzubringen ist ganz unnöthig. Wenn Du darauf eingehst, Du wirst mir’s einmal noch danken. Denke nur an Ritschl. Sage niemandem, selbst Deinen verehrten Eltern und Geschwistern nichts von diesem Vorschlag. Laß nur alle in dem Glauben, daß Du nach Berlin gehest. In Naumburg besprechen wir alles Nähere. Ich reise von hier am 31. dieses Mon<ates> ab. Also lieber Freund sei verschwiegen, aber folge mir. Grüße alle, die sich meiner erinnern und erfreue durch Deinen Besuch Deinen treuen Freund
F. W. N.
Meine Mutter hat sich sehr über Deinen lieben und heiteren Brief gefreut und sagt Dir ihren besten Dank.
Gersdorff, der mir immer sehr nahe steht, ist jetzt Offizier in Spandau. Vom Tode seines ältesten, auch von Dir besungenen Bruders weißt Du. Von Mushacke habe ich immer nur gute Nachrichten. Unser philol. Verein in Leipzig blüht.